Wieso sind für Mobilitätsprojekte geschlechterspezifische Daten erforderlich – und wie sollten sie erhoben werden? Diese Fragen diskutierte das mFUND-Frauennetzwerk Women for Datadriven Mobility am 18. Februar 2021 mit den beiden Forscherinnen Prof. Dr. Helena Mihaljević und Ines Kawgan-Kagan sowie rund 60 Interessierten.
Dr. Sarah Schmelzer vom Bundesverkehrsministerium (DG21) berichtete in ihren begrüßenden Worten über den mFUND, dass bei 80 von rund 300 Projektteams Frauen leitende Positionen einnehmen. Sie ermutigte dazu, diesen Anteil zu erhöhen und würdigte zugleich den Einsatz des Frauennetzwerks in der mFUND-Begleitforschung.
In zwei spannenden Vorträgen gaben die Referentinnen Einblick in ihre Forschung und setzten Impulse zur genderspezifischen Datenerhebung.
Die Mobilitätsexpertin Ines Kawgan-Kagan, Geschäftsführerin beim AEM Institute, wies darauf hin, dass aktuelle Verkehrsangebote den Mobilitätsbedürfnissen vieler Frauen nicht gerecht würden. Beispielsweise würden Frauen den öffentlichen Personennahverkehr häufiger als Männer nutzen, mehr und kürzere Strecken mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen und dies oft auch außerhalb der Berufsverkehrs- und Stoßzeiten. Auf diese unterschiedlichen Fahrtzeiten und -zwecke von Frauen sei jedoch die Taktung von Bussen und Bahnen häufig nicht eingestellt, so Kawgan-Kagan.
Um bedarfsgerechte und inklusive Verkehrsangebote zu entwickeln, käme es darauf an, genderspezifische Daten zu erheben, da diese auf soziale Faktoren verweisen würden, die das individuelle Mobilitätsverhalten beeinflussen. Hier führte Ines Kawgan-Kagan an, dass Frauen seltener innovative Angebote wie Carsharing oder Leih-Scooter und -Räder (Mikromobilität) nutzen, weil die Anbieter ihre Services auf einer Datenbasis aufbauen, in der die Mobilitätsbedürfnisse von Frauen kaum oder zu wenig enthalten seien.
„Man muss das Gesamtbild sehen, im Moment wird Gender aber noch gar nicht berücksichtigt. Wir müssen sehen, dass es noch andere Realitäten gibt als unsere eigene. Dafür müssen wir ein Bewusstsein schaffen“, so Kawgan-Kagan.
Die geschlechterspezifische Datenlücke, englisch: Gender Data Gap, also die ungleiche Datenlage zu Mobilitätsansprüchen und zum Mobilitätsverhalten von Frauen und Männern, ist ein bekanntes und historisch gewachsenes Problem. Darüber waren sich die Referentinnen und viele Teilnehmer*innen einig.
Die Teilnehmer*innen berichteten ergänzend von beruflichen Erfahrungen aus der Wissenschaft, der Datenverarbeitung oder dem Mobilitätsmanagement. Hinsichtlich der zunehmend datengetriebenen Mobilität sei daher eine bessere Datengrundlage nötig.
Prof. Dr. Helena Mihaljević, Professorin für Data Science an der HTW Berlin, gab einen Einblick in das mFUND-Projekt OpenTrafficCount und in ihre Forschung, beispielsweise zu geschlechtsspezifischen Aspekten in Big-Data-Analysen (Gender Inferenz).
Hierbei ging Mihaljević insbesondere auf Datenschutzbedenken ein und diskutierte mit den Teilnehmer*innen die Möglichkeit automatisierter Erhebungen und Analysen von genderspezifischen Daten. Bedenken hatten die Teilnehmer*innen und Referentinnen insbesondere bei der automatisierten Fremdzuschreibung eines Geschlechts oder Genders. Dies würde bereits bestehende Verzerrungen in den Daten verstärken.
In den abschließenden Kommentaren und Rückmeldungen zur Veranstaltung wünschten sich einige Teilnehmer*innen, weiter an Lösungen für die Gender Data Gap zu arbeiten.
Die Women for Datadriven Mobility und die mFUND-Begleitforschung werden den Austausch zum Thema weiterführen.
Weiterführende Literatur
- Clarke, Mari H.: Engendering Transport: Mapping Women and Men on the Move. Applying Anthropology in the Global Village 57, 2016. https://www.routledge.com/Applying-Anthropology-in-the-Global-Village/Wasson-Butler-Copeland-Carson/p/book/9781611320862
- Gauvin Laetitia et al.: Gender gaps in urban mobility. Humanities and Social Science Communications 7, 11 (2020). https://www.nature.com/articles/s41599-020-0500-x
- Kawgan-Kagan, Ines: Are women greener than men? A preference analysis of women and men from major German cities over sustainable urban mobility. Transportation Research Interdisciplinary Perspectives 8, 2020. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2590198220301470
- Latham Jones, Emma: Gender is One of the Most Robust Determinants of Transport Choice – Interview with Mary Crass. Transport Policy Matters, 2020. https://transportpolicymatters.org/2020/02/06/gender-is-one-of-the-most-robust-determinants-of-transport-choice/
- de Montjoye, Yves-Alexandre et al.: Unique in the Crowd: The privacy bounds of human mobility. Scientific Reports 3, 1376 (2013). https://www.nature.com/articles/srep01376
- Pini, Barbara: Interviewing men: Gender and the collection and interpretation of qualitative data. Journal of Sociology 41 (2), 2005. https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/1440783305053238
- Santamaría, Lucía, Mihaljević, Helena: Comparison and benchmark of name-to-gender inference services. PeerJ Computer Science 4, e156 (2018). https://peerj.com/articles/cs-156/
- Uteng, Tanu Priya, Christensen, Hilda Rømer, Levin, Lena: Gendering Smart Mobilities. Routledge, 2020. https://www.routledge.com/Gendering-Smart-Mobilities/Uteng-Christensen-Levin/p/book/9781138608276