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Kind mit Rucksack und Tretroller wartet am Fahrbahnrand, auf der Straße sind ein SUV und ein Bus zu sehen

Welche Daten machen den Schulweg sicherer?

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Andrea Reidl

Welche Daten machen den Schulweg sicherer?

Die Analyse großer Datenmengen eröffnet den Kommunen neue Möglichkeiten beim Planen und Gestalten von Schulwegen. Was heute bereits funktioniert und zukünftig vielleicht möglich ist, zeigen zwei Projekte in Berlin und Landshut.

Der Weg zur Schule gleicht für viele Kinder immer mehr einem Hindernislauf: Stark befahrene Straßen, zu wenige Zebrastreifen und viel zu viele Elterntaxis zwingen sie zu Umwegen – und manchmal sogar zum Ausweichen auf die Straße. Lehrkräfte versuchen seit Jahren gegenzusteuern und schicken Kinder auf geschützte Routen – was wiederum Umwege bedeutet. Expert*innen sind sich sicher, dass das auch besser geht. In Berlin und im bayerischen Landshut testen sie zwei datengetriebene Ansätze, damit Kinder zukünftig sicherer zur Schule gelangen.

Ein Berliner Bezirk will Gefahrenstellen auf dem Schulweg beseitigen

Das Berliner Projekt „Schulwegsicherheit“ setzt auf den Umbau der Infrastruktur. Das Unternehmen FixMyCity identifiziert Orte oder Streckenabschnitte, die für Kinder besonders gefährlich sind. Die Ergebnisse sollen dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg helfen, die Gefahrenstellen systematisch zu beseitigen.

Das Projekt steht für einen Richtungswechsel in der Verkehrspolitik des Bezirks. Bislang mussten sich die Kinder einer Infrastruktur anpassen, die den Autoverkehr bevorzugt. Dieses Vorgehen soll bald der Vergangenheit angehören: „Das Bezirksamt will mit unserer Analyse die direkten Routen zur Schule so sicher machen, dass Kinder dort gerne unterwegs sind“, sagt Heiko Rintelen, Geschäftsführer von FixMyCity. (Wertvolle Erfahrungen mit Daten zum Radverkehr, zur kommunalen Radverkehrsplanung und zur Nutzung von Open Street Map sammelte sein Unternehmen in den mFUND-Projekten FixMyBerlin und OSM-RVP.)

Um die Hauptrouten der Kinder zu ermitteln, hat sein Unternehmen zunächst die Wohnorte von 18.000 Sechs- bis Dreizehnjährigen ermittelt. „Die Daten erhalten wir vom Melderegisteramt anonymisiert als reine Geodaten“, erklärt Rintelen. Die Wohnorte haben seine Mitarbeiter*innen mit dem jeweils kürzesten Weg zur nächstgelegenen Schule verknüpft. Alle so entstandenen Wege ergaben ein digitales Schulwegenetz, das zeigt, wie viele Kinder auf den einzelnen Streckenabschnitten unterwegs sind. Je dicker eine rote Linie im Netz angezeigt wird, desto mehr Kinder nutzen den Weg, zumindest theoretisch, da nicht alle Kinder zur nächstgelegenen Schule gehen. Aber das Modell soll ausreichen, um die Hauptrouten zu identifizieren, auf die früher oder später auch die Kinder gelangen, die entferntere Schulen besuchen.

Ausschnitt einer Straßenkarte, auf der Schulen, Schulwege und Unfallhäufungen in einem Bezirk eingezeichnet sind

Screenshot: fixmyberlin.de

Die Straßen um den Lausitzer Platz (grau, mittig) sind für den Autoverkehr gesperrt – die Karte zeigt dort weniger Unfälle als in der Umgebung

Die Gefahrenstellen auf diesen Routen werden sichtbar, sobald Unfalldaten, Ampeln, Zebrastreifen und die erlaubte Höchstgeschwindigkeit hinzukommen. Die benötigten Daten stellt die Stadt über ihr Geoportal bereit. Ausrufezeichen auf der digitalen Karte markieren die Kreuzungen, die Übergänge wie Zebrastreifen oder Verkehrsampeln bräuchten. Beim Hineinzoomen in die Karte leuchten Unfallschwerpunkte orangerot. Beim Superzoom wechselt die Darstellung von der Grafik zum Satellitenbild. Der Blick aus der Vogelperspektive zeigt beispielsweise parkende Autos, die den Kindern häufig die Sicht auf die Kreuzung verdecken. „Im direkten Schulumfeld ist der Handlungsbedarf am größten“, so Annika Gerold, Bezirksstadträtin für Verkehr, Grünflächen, Ordnung und Umwelt von Friedrichshain-Kreuzberg. Das verdeutliche die Datenanalyse auf einen Blick. In den kommenden Monaten soll der Umbau starten.

Die Investitionen für die Verwaltung sind relativ niedrig. Die Kosten für die interaktiven Karten starten bei rund 7.000 Euro und richten sich nach der Zahl der Einwohner*innen. Nach ein bis zwei Wochen sind die interaktiven Karten fertig. Dann kann die Verwaltung die Karten auswerten und eine Prioritätenliste erstellen.

Die Karten zeigen auch, ob und wie die einzelnen Maßnahmen wirken. Vor zwei Jahren wurde der nördliche Bereich des Lausitzers Platzes in Friedrichshain-Kreuzberg zugunsten der Schulkinder durch Poller für den motorisierten Verkehr gesperrt. Diese temporäre Umgestaltung hat laut dem Bezirk circa 190.000 Euro gekostet. Eine Grundschule, eine Kita, zwei Bolzplätze und ein großer Spielplatz befinden sich im direkten Umfeld. Laut den Verkehrsdaten von FixMyCity sind dort mehr als 300 Kinder unterwegs. Weil sich die Schulgebäude auf beiden Seiten des Platzes befinden, müssen die Kinder zum Teil mehrmals täglich zwischen den Unterrichtsstunden die Straße überqueren. „Viele Autofahrer*innen haben sich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzungen gehalten“, erinnert sich Bezirksstadträtin Gerold. Das war für die Kinder gefährlich. Seit der Sperrung hat sich die Situation entspannt. Die Datenanalyse dient der Verwaltung also auch zur Erfolgskontrolle beim Straßenumbau. Der Bezirk ist mit der Maßnahme so zufrieden, dass der Platz für mehrere Millionen Euro dauerhaft umgebaut werden soll.

Gefahrenstellen.de: Routenplanung für sicheren Schulweg

Auf www.gefahrenstellen.de können Eltern durch Eingabe von Wohnort und Adresse der Schule ihres Kindes Vorschläge für einen möglichst sicheren Schulweg erhalten. Hinter der Website stehen die Initiative für sichere Straßen und das mFUND-Projekt FeGiS+, die gemeinsam mit zahlreichen Partner*innen eine Plattform zur Früherkennung von Gefahrenstellen im Straßenverkehr realisiert hat, auf der der Schulweg-Routenplaner basiert.

In Landshut soll Verkehrsteilnehmer*innen vor Gefahren auf dem Schulweg warnen

Anders als in Berlin verfolgt das Landshuter Forschungsprojekt „5-Safe“ nicht das Ziel, die Infrastruktur zu verändern. Die Verantwortlichen wollen vor möglichen Unfällen warnen, bevor sie überhaupt geschehen. Was nach Science-Fiction klingt, soll durch die Kombination zweier Technologien möglich werden: 5G und Künstliche Intelligenz (KI). Der neue Mobilfunkstandard 5G erlaubt die Übertragung von Daten nahezu in Echtzeit; eine KI-Software kann die Daten – hier: das Verkehrsgeschehen – blitzschnell analysieren, Gefahren erkennen und bei Bedarf dank 5G sofort Alarm schlagen, so die Idee.

Das Bundesverkehrsministerium hatte 2021 noch unter der Leitung von Andreas Scheuer eine Förderung für innovative Projekte, die 5G nutzen, aufgesetzt. Abdelmajid Khelil, Professor für Informatik an der Hochschule Landshut, reichte daraufhin das „5-Safe“-Projekt ein. In der dritten Förderrunde erhielt die Idee im Sommer 2022 den Zuschlag und wird bis Ende 2024 vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) mit rund 4,5 Millionen Euro unterstützt. Zum Projektteam gehören die Stadt Landshut, der Software-Entwickler Peregrine und die T-Systems International GmbH, eine Tochtergesellschaft der Telekom, die die Kommunikationsinfrastruktur für die Datenübertragung und -analyse aufbaut: Funkmasten, Funkzellen, Rechenzentren, Glasfaserkabel und anderes.

Das Start-up Peregrine hat eine Software entwickelt, die Videoaufnahmen des Verkehrsgeschehens mittels KI-Verfahren analysiert, ohne personenbezogene Daten zu verarbeiten und zu speichern. „Unser Algorithmus abstrahiert diese Informationen noch im Sensor zu neutralen Begriffen wie Fußgänger*in, Radfahrer*in, Auto, Bus und Lastwagen, die sich in eine bestimmte Richtung bewegen“, erklärt Steffen Heinrich, Geschäftsführer von Peregrine. Bewegten sich beispielsweise Autos und Fußgänger so aufeinander zu, dass sie aufeinandertreffen, gehe eine Warnung an beide raus.

POV-Aufnahme anderer Verkehrsteilnehmer*innen

Grafik: Peregrine Technologies

Verkehrsschilder, Ampeln und natürlich Verkehrsteilnehmer*innen – der KI-Software von Peregrine soll das alles erkennen

„Das Ziel von 5-Safe ist, die Gegend rund um die Schulen so sicher zu gestalten, dass Eltern ihre Kinder entweder allein zur Schule gehen lassen oder sie in flexiblen Hol- und Bringstationen absetzen“, erläutert Khelil, der wissenschaftlicher Leiter des Projekts ist. Da rund die Hälfte aller Unfälle mit Personenschaden an Kreuzungen und Einmündungen passieren, sollen in Landshut die Knotenpunkte im direkten Umfeld einer Grund- und zweier Realschulen mit verschiedenen Sensoren ausgestattet werden. Dazu zählen Lidar, Radar, Kameras, Wärmebildkameras oder auch Mikrofone. Die Sensoren erfassen permanent die Fahrzeuge und Menschen per Bild, Ton oder Umriss vor Ort. Bereits in der Basisstation des Sensors werden die Informationen verarbeitet und im Ernstfall als Warnung an speziell ausgerüstete Verkehrsschilder und Ampeln oder direkt an Smartphones oder Head-up-Displays in Fahrzeugen verschickt. „Falls Kinder trotz Rotsignal die Fahrbahn betreten, am Fahrbahnrand toben oder unvermittelt den Zebrastreifen betreten, warnt der 5-Safe-Meldedienst die Autofahrer“, so Khelil. „Früher konnten Ampeln und Lampen nur Signale verarbeiten. Smarte Verkehrsschilder dagegen haben ein integriertes Rechensystem und können blinken oder Schriftzüge anzeigen.“

„Um die Nachricht direkt im Fahrzeug anzuzeigen, muss der Hersteller uns eine Schnittstelle öffnen“, ergänzt Dominic Scholze, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hochschule Landshut. Das sei momentan noch ein Hindernis. Aber er betont: „Die Anwendung von 5G und KI in der Verkehrssicherheit hat es so bislang noch nicht gegeben.“ Das Team um Khelil und Scholze testet in den kommenden zwei Jahren Möglichkeiten und Grenzen des Systems. Die Herausforderungen sind groß. „Die Sensoren müssen bei jeder Witterung einwandfrei das Geschehen erfassen“, sagt Scholze. Dies gilt bei Schnee, Nebel oder Starkregen ebenso wie bei großer Hitze oder wenn große Lieferwagen Teile der Strecke komplett verdecken. „Deshalb testen wir verschiedene Sensoren, die aus verschiedenen Perspektiven die Gegend erfassen“, fügt der Wissenschaftler hinzu. Außerdem müssen sie so angebracht werden, dass sie vor Vandalismus geschützt sind.

Datenexpertin sieht Low-Tech-Lösungen im Vorteil

„Ich bin gespannt, ob die Sensorik große Verbesserungen erzielt“, sagt Maita Schade, Projektmanagerin Daten und Digitalisierung bei der Denkfabrik Agora Verkehrswende. Städte und Kommunen brauchten eine gute Datengrundlage, um ihre Infrastruktur systematisch und anhand objektiver Kriterien an die Bedürfnisse von Kindern anzupassen. „FixMyCity hat eine effektive Methode entwickelt, die, mit dem richtigen Datensatz, Kommunen eine umfassende Analyse ihrer Schulwege ermöglicht“, findet sie.

An besonders gefährlichen Stellen könnten zusätzlich gezielte Maßnahmen zur Absicherung eingesetzt werden, wie es in Landshut vorgesehen ist. „In den USA werden Blinklichter an Kreuzungen punktuell bereits eingesetzt“, berichtet Schade. Die Methode habe sich bewährt: „Studien zeigen, dass die Unfallzahlen nach Einführung des Blinklichts zurückgegangen sind.“ Die orangefarbenen Signallichter werden in Ampelhöhe quer über Zebrastreifen angebracht und warnen die Autofahrer*innen frühzeitig. Allerdings läuft das dort nicht automatisch ab: Radfahrer*innen oder Fußgänger*innen müssen das Warnsignal per Knopfdruck anfordern, um mehrspurige Straßen zu überqueren – anders als im Landshuter Projekt.

„5G ist eine tolle Technologie, um schnell und stabil große Datenmengen zu übertragen“, führt Schade aus. Der Nachteil sei, dass 5G viel Energie verbrauche. Für die Schulwegeplanung existierten bereits viele gute Maßnahmen, die erprobt seien und gut funktionierten, ohne dass Sensoren verbaut werden müssten. Dazu gehören Geschwindigkeitsbegrenzungen, getrennte Spurführungen für Radfahrer*innen oder auch Durchfahrtsperren für Elterntaxis. „Als Datenexpertin bin ich sehr gespannt auf die Ergebnisse des 5-Safe-Projekts“, sagt sie, „aber manchmal gibt es in der Verkehrsplanung einfache Lösungen. Die darf man auch durchaus benutzen.“ Mit anderen Worten: Es muss nicht immer Hightech sein.

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