Die Barrierefreiheit ist oft noch nicht fester Bestandteil von Forschungsprojekten. Dabei ist sie gerade in der Kommunikation essenziell, um eine möglichst große Zahl an Menschen zu erreichen und einzubeziehen. Nur so kann Forschung Aussagen über die Gesellschaft als Ganzes treffen. Dieser Artikel dient als Einstiegshilfe und bietet praktische Hilfestellungen.
Über die Autorin: Sarah Krümpelmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Sozialhelden e.V. Sie ist dort in den Projekten IncluScience und BarrierenBrechen als Projektleiterin bzw. Projektmanagerin tätig. Dieser Artikel ist mit freundlicher Unterstützung des Vereins entstanden.
Öffentlichkeitsarbeit in Forschungsprojekten dient dazu, die gesellschaftliche Relevanz der eigenen Arbeit möglichst vielen Bürger*innen darzulegen. Die Erfahrungen aus der Coronapandemie haben gezeigt, wie wichtig die transparente und verständliche Darstellung wissenschaftlicher Arbeit ist, besonders dann, wenn sie direkten Einfluss auf das Leben unzähliger Menschen hat. Oft ist gute Öffentlichkeitsarbeit auch notwendig, um Fördergelder zu erhalten. Zudem erleichtert sie die Beteiligung von Bürger*innen am Projekt, etwa in Form von Umfragen oder anderen Datenerhebungen.
Die Barrierefreiheit ist dabei ein notwendiger Aspekt, der häufig noch nicht fester Bestandteil von Forschungsprojekten ist. Nur durch den Abbau von Barrieren kann das Recht auf Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen und damit auch in der Wissenschaft garantiert werden.
Sechs bis acht Millionen Menschen mit Behinderungen leben in Deutschland, das entspricht sieben bis zehn Prozent der Gesellschaft. Zudem wird der demografische Wandel in den nächsten Jahren dazu beitragen, dass in Deutschland mehr ältere Menschen leben – Menschen, die in der Mobilität, beim Sehen oder beim Hören beeinträchtigt sein können. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 durch die Bundesrepublik Deutschland ist Inklusion, also die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen, ein Menschenrecht. (Siehe hierzu auch den Infokasten mit entsprechenden Richtlinien und Gesetzen am Ende dieses Beitrags.)
Die Umsetzung von Inklusion betrifft damit auch den Bereich der Forschung. Wollen wissenschaftliche Projekte für einen Großteil der Gesellschaft zugänglich werden, die Gesamtheit der Gesellschaft im besten Fall auch abbilden und sie in die Forschung einbeziehen, kann ihnen barrierefreie Öffentlichkeitsarbeit helfen.
Werden Menschen mit Behinderungen nicht beteiligt, kann das negative Auswirkungen auf die Forschung und ihre gesellschaftliche Wirkung haben. Bei nicht-inklusiven Forschungsprojekten werden nur Daten von einer kleinen Gruppe der Gesellschaft erhoben. Andere Menschen, die über Expertise in einem bestimmten Forschungsbereich verfügen, werden möglicherweise ausgeschlossen, und Themen, die unter anderem Menschen mit Behinderungen betreffen, nicht behandelt. Unter Umständen werden sogar neue Barrieren geschaffen, wenn Entwicklungen nicht durch Nutzer*innen mit Behinderungen getestet werden.
Ein Beispiel für den Aufbau neuer Barrieren ist das biometrische Passfoto, das durch seine Anforderungen – kein geneigter Kopf, Augen geöffnet und deutlich sichtbar – viele Menschen ausschließt. Forschung, die bei der Datenerhebung nicht auf Barrierefreiheit achtet, verhindert, dass sich einige Bevölkerungsgruppen beteiligen können, und verliert damit an Aussagekraft in Bezug auf die Gesellschaft im Ganzen.
Was Menschen mit Behinderungen zugutekommen soll, ist häufig für alle Menschen von Vorteil. Das Phänomen wird Curb-Cut-Effekt genannt und bezieht sich auf abgesenkte Bordsteinkanten, von denen nicht nur Menschen im Rollstuhl profitieren. Ein anderes Beispiel sind Untertitel, sodass man Videos auch ohne Ton folgen kann, was etwa in der U-Bahn vorteilhaft sein kann. Auch Sprachsteuerungen wie Alexa oder Siri können allen Menschen den Alltag erleichtern.
Der Curb-Cut-Effekt findet sich auch in der Öffentlichkeitsarbeit: Werden Forschungsinhalte in einfacher Sprache kommuniziert, erhöht dies für viele Menschen die Verständlichkeit. Dabei muss nicht zwingend zwischen Verständlichkeit und Genauigkeit abgewogen werden. Einfache Sprache ist meist präziser als die sogenannte Standardsprache, da sie es unter anderem erfordert, beim Schreiben auf Fremdwörter ohne Erklärungen zu verzichten und Inhalte konkret und sorgfältig wiederzugeben.
Barrierefreie Öffentlichkeitsarbeit betrifft zahlreiche Aspekte eines Forschungsprojekts von der Kommunikation der Forschungsfrage und -ergebnisse in verständlicher Sprache bis hin zur Beteiligung von Bürger*innen mit Behinderung und anderen Diversitätsmerkmalen. Barrierefreiheit sollte bei jedem Schritt berücksichtigt werden.
Interne Kommunikation
Um den Anspruch von inklusiver Wissenschaft nachhaltig nach außen kommunizieren zu können, sollten Projekte überprüfen, wie inklusiv das Team ist und wie barrierefrei die Tools und Techniken sind, die zur internen Kommunikation genutzt werden.
- Schon bei der Zusammenstellung des Teams sollte bedacht werden, dass die Mitglieder verschiedene Erfahrungen und Lebensrealitäten einbringen und diese die Forschungsarbeit beeinflussen (können). Ist die Diversität ausbaufähig, bedarf es gezielter Maßnahmen: Stellenanzeigen sollten zum Beispiel barrierefrei gestaltet sein, um Menschen mit Behinderungen überhaupt die Bewerbung zu ermöglichen und zudem zu signalisieren, dass ihre Bewerbungen erwünscht sind.
- In den Stellenausschreibungen sollte beschrieben werden, welche Maßnahmen zur Herstellung von Barrierefreiheit am Arbeitsplatz bereits ergriffen wurden (Aufzug, barrierefreie Software) und welche noch folgen könnten. Arbeitgebende sollten außerdem nicht davon ausgehen, dass sich Menschen mit Behinderungen von selbst bewerben. Stattdessen sollten Ausschreibungen gezielt in Netzwerken, die Menschen mit Behinderungen erreichen, platziert und an Interessenverbände gesendet werden.
- Teams sollten sich vorab über die Hinweise zur Barrierefreiheit der jeweiligen Tools informieren, etwa jene zur Kommunikation, Projektarbeit und Dokumentation. Zum Beispiel kann darauf geachtet werden, ob ein Tool kompatibel für Screenreader-Software ist. Das ist in der Regel der Fall. Dokumente sollten immer gut strukturiert werden, unter anderem durch Überschriften, die als H1, H2 usw. formatiert und nicht nur fett gedruckt sind.
- Zu den Techniken barrierefreier Kommunikation gehört ergänzend die Art und Weise, wie im Team gearbeitet wird – idealerweise klar, verständlich und vorausschauend.
Externe Kommunikation
Barrierefreie Kommunikation nach außen betrifft die Erreichbarkeit von kommunizierten Inhalten.
- In der externen Kommunikation sollten keine Klischees zum Thema Behinderungen reproduziert werden. In der geschriebenen Sprache sollte auf diskriminierende Floskeln wie „an den Rollstuhl gefesselt“ oder „an einer Behinderung leiden“ verzichtet werden. Hilfestellungen für diskriminierungsfreie Sprache finden sich zum Beispiel bei Leidmedien.de und den Neuen deutschen Medienmacher*innen.
- Auch die bildliche Sprache sollte Diversität darstellen. Dabei helfen Fotodatenbanken wie Gesellschaftsbilder.de.
- Damit ein Forschungsprojekt eine möglichst große Zahl vielfältiger Menschen erreicht, sollten Inhalte über Netzwerke, die sich für Diversität einsetzen, gestreut werden. Auf Leidmedien.de findet sich eine Liste von Verbänden und Netzwerken von Menschen mit Behinderungen, die als erster Ansatzpunkt dienen kann.
Man kann in Sachen Öffentlichkeitsarbeit viel Schaden anrichten, wenn das Bewusstsein für Barrierefreiheit nicht vorhanden ist. Für ein tiefergehendes Verständnis empfehlen wir die Teilnahme an Fortbildungen und Workshops zu diesem Thema. Die folgenden fünf Tipps stellen aber bereits ein Anfang dar:
- Inhalte für Tastatursteuerung optimieren
Blinde Menschen und Menschen mit motorischen Behinderungen nutzen die Tastatursteuerung, um zu navigieren. Zum Beispiel können Anwendungen auf einem Touchscreen alternativ mit der Tastatursteuerung bedient werden. Auch Webauftritte sollten mit der Tastatur nutzbar sein. Die eigene Webseite lässt sich einfach überprüfen: Wer feststeckt, hat ein Indiz dafür gefunden, dass Struktur und Bedienbarkeit der Webseite noch nicht für die Nutzung einer Tastatursteuerung optimiert sind. - Texte für Screenreader strukturieren
Sehbehinderte oder blinde Menschen greifen in der Regel mit adaptiven Technologien wie Screenreadern auf Webseiten zu. Sie navigieren mit der Tastatur durch die Elemente der Webseite (Überschriften, Text-Abschnitte, Bilder, Links, Schaltflächen usw.), während der Screenreader den Inhalt laut vorliest. Manche haben zusätzlich eine aktualisierbare Braillezeile: dabei handelt es sich um ein Display, das Zeichen in Brailleschrift („Blindenschrift“) darstellt und an Computer oder Handy angeschlossen ist. Die Navigation erfolgt meist von Überschrift zu Überschrift und Abschnitt zu Abschnitt. Sind Seiten schlecht strukturiert und zum Beispiel ohne Überschriften, sind die Nutzenden gezwungen, sich – statt des gewünschten Abschnitts – die gesamte Seite durchzulesen. Dies kostet Zeit, sorgt für Frustration und führt häufig dazu, dass die Betroffenen die Seite verlassen. - Audiovisuelle Inhalte beschreiben
Bei allen Inhalten – dazu gehören Social-Media-Posts, Artikel oder Videos – kann ein erster Anhaltspunkt die Frage sein, ob die Inhalte mit zwei verschiedenen Sinnen erreicht werden können. Bei audiovisuellen Medien sollten immer Untertitel angeboten werden. Audiodeskription beschreibt zusätzlich zum Gesprochenen die weiteren Inhalte des Videos. Bilder und Grafiken wie Diagramme sollten immer mit Alternativtexten versehen werden, die dann von einem Screenreader vorgelesen werden können. - Texte verständlich schreiben und formatieren
Artikel und sonstige Texte sollten verständlich geschrieben sein. Zudem können sie von Fachleuten in Einfache Sprache übersetzt werden. Das ist eine speziell geregelte Sprache, die Menschen das Verstehen von Texten erleichtern soll. Auf Webseiten kann außerdem eine Vorlesefunktion eingebaut werden, damit schriftliche Texte per Klick vorgelesen werden. Mit Gebärdensprache lassen sich gehörlose Menschen in ihrer Sprache erreichen. Dolmetschende sind zum Beispiel auf den Seiten der Landesverbände der Gebärdensprachdolmetscher*innen zu finden.
Eine gut lesbare, serifenlose Schriftart erleichtert den Zugang zu Texten, genauso wie große Schrift, Linksbündigkeit, Zeilenabstände und hohe Kontraste. Bei sogenannten Farbblindheiten können Betroffene manche Farben nicht unterscheiden (zum Beispiel rot und grün). Die falsche Farbwahl führt unter Umständen also dazu, dass ein Diagramm für manche Menschen nicht lesbar ist. Hierbei können Hell-Dunkel-Kontraste, Muster oder Beschriftungen Abhilfe schaffen.
Inhalte im PDF-Format sollten ebenfalls barrierefrei sein. Auch hierbei gilt, Texte mit Überschriften gut zu strukturieren und Alternativtexte für Bilder zu erstellen. - Inklusives Gesamtkonzept – auch bei Umfragen
Wer Nutzende nach möglichen Barrieren der eigenen Webseite fragt oder um Feedback bittet, signalisiert, ein Projekt wirklich inklusiv gestalten zu wollen. Erhaltenes Feedback sollte daher auch wertgeschätzt und beispielsweise mit einer kleinen Aufwandsentschädigung kompensiert werden.
Bei Umfragen sollte den Teilnehmenden genügend Zeit für die Beantwortung
eingeräumt werden. Außerdem sollten sie natürlich verständlich
formuliert sein.
Nach den Hinweisen und Tipps zur barrierefreien Öffentlichkeitsarbeit soll im Folgenden anhand von zwei Projekten der Sozialheld*innen veranschaulicht werden, wie sie diese Tipps in der Praxis umsetzen.
Elevate Delta
Bild: Screenshot Elevate Delta
Mit dem mFUND-geförderten Projekt Elevate Delta tragen die Sozialheld*innen bundesweit Live-Daten zum Betriebsstatus von Aufzügen zusammen. Zudem entwickeln sie Datenstandards. Auf diese Weise wird es mobilitätseingeschränkten Nutzer*innen ermöglicht, frühzeitig zu erfahren, ob der Aufzug, den sie im Zuge ihrer Alltagsmobilität nutzen, auch funktioniert. Mit dem Projekt rufen die Sozialheld*innen zur breiten Beteiligung auf. Ziel des Projekts ist, möglichst viele hilfreiche Aufzugsdaten in allen Lebensbereichen (Mobilität, Gesundheit, Freizeit, Kultur, öffentliche Verwaltung, Wohnen etc.) anbieten zu können.
IncluScience
Bild: Screenshot IncluScience
IncluScience ist ein gemeinsames Projekt der Sozialheld*innen und der Sozialforschungsstelle der TU Dortmund, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. In dem Projekt soll die bereits bestehende Wheelmap erweitert werden, sodass mehr Informationen zur Barrierefreiheit von Orten angezeigt werden. Interessierte Bürger*innen sollten entscheiden, mit welchem neuen Ortstyp die Erweiterung beginnen sollte. Dafür erstellte das Projekt eine Umfragen-Kampagne. Ein Video klärte über das Projekt auf und verwies Bürger*innen auf die Möglichkeit zur Teilnahme an der Umfrage.
Bei Workshops mit Repräsentant*innen und Aktiven aus der Behindertenbewegung wurde im Vorfeld der Kampagne erfragt, auf welche Weise möglichst viele Menschen mit Behinderungen erreicht werden könnten. Ein Ergebnis war die Ansprache der Community auf Augenhöhe: Die Protagonist*innen des Kampagnen-Videos sind selbst Betroffene mit unterschiedlichen Behinderungen, die über Orte sprechen, über deren Barrierefreiheit sie in Zukunft auf der Wheelmap informiert werden möchten. Das Video enthält deutsche Gebärdensprache, Untertitel, Audiodeskription und Einfache Sprache. Die Umfrage ist in Einfacher Sprache gestaltet und auch für Personen, die Screenreader nutzen, erreichbar.
Richtlinien und Gesetze zu Barrierefreiheit
Institutionen sind in einigen Fällen zur Barrierefreiheit verpflichtet. Dies gilt vor allem für Institutionen der öffentlichen Hand. Für sie ist es lohnend, sich an den WCAG/BITV-Richtlinien zu orientieren. Dabei handelt es sich um EU-weit vereinheitlichte Mindeststandards und damit auch im internationalen Kontext hilfreiche Vorgaben.