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Nahaufnahme eines brüchigen roten Radwegs, über den drei Fahrräder fahren

Neue App für bessere Fahrradinfrastruktur

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Lukas Bergheim

Neue App für bessere Fahrradinfrastruktur

Gefährliche oder fehlende Radwege auf einer digitalen Karte markieren, über die Dringlichkeit der Verbesserung abstimmen und die Verantwortlichen zum Handeln bewegen – das ist die Idee von Parry. Das Berliner Projekt steht mit dem Ansatz der Bürger*innenbeteiligung national und international nicht allein da.

Mit der kürzlich veröffentlichten App Parry können Nutzer*innen auf einer digitalen Karte Stellen markieren, die für Radfahrer*innen ärgerlich oder gefährlich sind, und diese dann gewichten. So soll ein Ranking der Orte entstehen, die am dringendsten verbessert werden sollten. Das Ranking ist zukünftig für alle auf einer Webseite einzusehen. Dabei handelt es sich um einen Service für Berlin, wo auch das Team hinter der App lebt.

Ansichten aus der App Parry: eine Karte mit Markierungen, daneben Details zu den markierten Punkten, z.B. schlechte Straße

Grafik: Parry

Die App sei für Rad fahrende Menschen gedacht, die sich tagtäglich ärgern, aber wenig Zeit haben, und keinen Brief an ihren Abgeordneten schreiben würden, erklärt Max Kuck von CitizenTech, Mitgründer des Projekts. „Wir wollen die Leute dazu bringen, am Tag bloß ein paar Minuten in der App zu verbringen“, erklärt er. Parry soll Zeit sparen, auch die Eintrittsbarriere ist niedrig. Nur eine Handynummer ist für die Registrierung notwendig, um eine faire Abstimmung zu sichern.

Das Team von Parry will eine Vermittlungsfunktion erfüllen und den über die App gemeldeten Bedarf an die Verantwortlichen in der Politik herantragen. „Wir erhoffen uns eine Hebelwirkung, wenn wir sagen können: Hier haben 1.000 Leute über diesen einen Spot in Lichtenberg abgestimmt.“, sagt Kuck.

Fahrradbesitz und -nutzung klaffen in Deutschland auseinander

Die erhofften Beteiligungszahlen kommen nicht von ungefähr: Statistisch besitzt fast jeder Mensch in Deutschland ein Fahrrad oder E-Bike: Knapp 83 Millionen davon kommen auf rund 84 Millionen Einwohner*innen. Die Pkw-Dichte ist mit etwa 48 Millionen Fahrzeugen nicht annähernd so hoch. Dennoch macht der Anteil des Fahrrads an der Verkehrsleistung im Personenverkehr nicht einmal vier Prozent aus.

Das liegt auch an der Infrastruktur. Wer täglich Fahrrad fahren will, muss sich sicher fühlen, braucht geeignete Wege, Abstellmöglichkeiten und vieles mehr. All das ist bekannt. Wem die Radverkehrsförderung in Bund, Ländern und Kommunen dennoch nicht schnell und gezielt genug vonstattengeht, dem bieten immer mehr Projekte und Initiativen die Möglichkeit zur Mitwirkung.

Parry ist der Machbarkeitsnachweis geglückt – wichtige Fragen sind aber noch zu klären

Zur Fahrradmesse VELOBerlin hatte Parry einen Soft Launch, ist nun also in den gängigen App Stores verfügbar. Werbung hat das Team bisher noch nicht gemacht. Dennoch haben sich seit der Messe 60 Menschen registriert, erste Stellen markiert und darüber abgestimmt. Kuck meint dazu: „Das ist für uns ein Proof of Concept, wir lernen jetzt erst einmal noch weiter.“

Aktuell beschäftige ihn die Frage, was der beste Weg sei, damit die gesammelten Stimmen nicht ins Leere laufen. Dafür wolle das Team von Initiativen wie dem Verein Changing Cities lernen, die bereits Erfahrung damit haben, mit Bürger*innen erarbeitete Forderungen in die Politik zu tragen. Auch ein Treffen mit einer Bezirksstadträtin ist geplant.

Es gibt noch weitere potenzielle Partner*innen für einen Erfahrungsaustausch, denn Parry ist bei Weitem nicht das erste Projekt, dass es Menschen ermöglicht, Daten zur Fahrradinfrastruktur oder -nutzung einzugeben (siehe Infokasten).

Bürger*innen spenden Daten, bewerten Radverkehrsinfrastruktur und melden Bedarfe an – ähnliche Projekte

In der Schweiz läuft mit Erfolg das Projekt Bikeable – nach demselben Prinzip wie Parry, die App gibt es jedoch schon seit 2019. Seitdem konnte das Projekt eine ganze Reihe von Kommunen als Partnerinnen gewinnen. Auch die Stadt Zürich hat zugesichert, sich die gemeldeten Orte anzusehen und zu prüfen, ob und wie diese verbessert werden können. Das Label „fixed“, das auf einigen Meldungen prangt, zeigt, dass sich etwas tut. Die Anzahl der markierten Orte allein in Zürich ist allerdings riesig.

Das Unternehmen Bike Citizens hat schon 2017 zum ersten Mal Radfahrer*innen mit einem Knopf am Lenker ausgestattet, mit dem sie während der Fahrt problematische Orte markieren konnten. „Ping if you care“ hieß die Kampagne, die zuerst in Brüssel lief. Der Knopf ist mit einer App verbunden, die die Route aufzeichnet und bei Knopfdruck Markierungen setzt. Im Nachhinein können diese dann kommentiert und kategorisiert werden. Auch Menschen in Amsterdam und München haben auf diese Weise viele zehntausend Schlaglöcher, Barrieren, Konflikte und Beinahe-Unfälle gemeldet.

Aktuell wird die „Ping“-Technik im mFUND-Projekt ESSEM in den Städten Ludwigsburg und Osnabrück eingesetzt, um zu erforschen, wann Radfahrer*innen sich unsicher fühlen, und daraus Maßnahmen abzuleiten.

Ähnlich funktioniert auch das Projekt SimRa, das im Jahr 2022 mit dem Deutschen Fahrradpreis ausgezeichnet wurde. Die App zeichnet Fahrtrouten auf und erkennt dank der Sensoren im Smartphone Gefahrensituationen wie plötzliches Bremsen, Ausweichen oder gar Stürze. Anschließend sollen die Nutzer*innen die erfassten Gefahrensituationen kategorisieren, ergänzen und zum Upload freigeben.

Auch das Unternehmen FixMyCity setzt unter anderem Beteiligungsprojekte für Kommunen um, so zum Beispiel einen Radbügelmeldedialog. In Aachen und im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg konnten Nutzer*innen auf einer digitalen Karte markieren, wo sie sich Bügel zum Anschließen ihrer Fahrräder wünschen. Es gingen jeweils mehrere Tausend Meldungen ein. Auf der Karte ist nun sichtbar, welche Bügel in Planung, im Bau oder bereits fertig sind. In anderen Projekten des Unternehmens sollen Bürger*innen beispielsweise Daten in OpenStreetMap erheben, um die Radverkehrsplanung zu unterstützen.

Unter dem Namen CycleRAP entwickelt das britische, gemeinnützige International Road Assessment Programme (iRAP) ein differenziertes Bewertungssystem für Radverkehrsinfrastrukturen. Hierbei dienen Film- und Fotoaufnahmen – die auch von Bürger*innen beigesteuert werden – dazu, die Zustände von Radwegen, Radstraßen, Radspuren, Kreuzungen und zu erfassen und unter anderem mit Hilfe von Bildanalyseverfahren einzustufen. Anhand von zirka 50 unterschiedlichen Zustandskategorien sowie vier Unfallrisiko-Arten soll diese Bewertungsmethodik die Radverkehrsinfrastrukturen weltweit vergleichbar machen, in ein Ranking überführen und internationale Erhebungen ermöglichen.

Parry verfolgt einen Gamification-Ansatz mit virtuellen Tokens

Trotz aller Ähnlichkeiten zu bestehenden Projekten sieht Max Kuck Punkte, mit denen sich Parry von anderen Projekten abhebt. Da sei das ausgeklügelte Abstimmungssystem, das auch auf der Beteiligungsplattform Join der taiwanesischen Regierung zum Einsatz komme. Die Bürger*innen können dort Vorschläge einreichen – wenn sie mindestens 5.000 Stimmen erhalten, muss die Regierung dazu Stellung nehmen.

Die Abstimmung funktioniert allerdings nicht nach dem Prinzip, dass eine Person eine Stimme hat. So kämen – zurück zu Parry – nämlich immer nur die meistfrequentierten Gefahrenstellen im Ranking nach oben. Stattdessen hat jede*r Nutzer*in 500 Tokens, die sie beliebig einsetzen können, also auch 500 Tokens für ein einziges Schlagloch im Berliner Asphalt. Dabei sind 500 Tokens allerdings nicht 500 Stimmen, denn der Preis pro Stimme steigt exponentiell: Eine Stimme kostet einen Token, zwei Stimmen kosten vier Tokens, drei Stimmen neun Tokens, vier Stimmen 16 Tokens und so weiter.

Es bleibt also den Nutzer*innen überlassen, wie sie ihre Tokens investieren wollen, und Minderheiten sind dennoch nicht per se im Nachteil. Besonders aktive Nutzer*innen können Token verdienen. Wenn die Stadt eine Problemstelle löst, werden die verbrauchten Token erstattet. Das alles soll Parry spielerisch spannend machen, das Prinzip nennt sich Gamification.

Parry soll laut den Initiator*innen außerdem zu einer Community werden, auf Veranstaltungen hinweisen und zur Vernetzung beitragen.

Die App als Open Source, keine Investor*innenbeteiligung geplant

Das vielleicht wichtigste Ziel ist jedoch: „Wir wollen Parry open sourcen, damit andere Communitys es übernehmen und weiterentwickeln können“, erläutert Kuck. Davon würde wiederum Parry profitieren, das so ebenfalls weiterentwickelt werden könnte.

Derzeit finanziert das sechsköpfige Kollektiv das Projekt aus Eigenmitteln und plant auch nicht, Investor*innen an Bord zu holen. Das gemeinnützige Ziel soll nicht aus den Augen geraten. Über Werbung zur Finanzierung denken die Macher*innen dagegen schon nach.

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