Wo bilden sich Schleichwege, welche Kreuzungen werden gemieden, wie frequentiert sind Radwege? Für evaluierte Antworten auf diese Fragen nutzen Datensammler GPS-Tracker – zudem setzen sie spielerische Elemente und Anreizsysteme ein.
Sein Auto hat Ronald Brandt bereits vor Jahren verkauft. Er fährt lieber Fahrrad. 10.000 Kilometer verbringt er jedes Jahr im Sattel. Die meistens davon sind Alltagswege zum Einkaufen, zu Freunden oder die 13 Kilometer in die hannoversche Innenstadt zur Arbeit. Brandt ist schnell mit dem Rad, richtig schnell. Mit seinem Trekkingbike schafft er einen Schnitt von 25 Kilometern pro Stunde. Das dachte er jedenfalls.
Seit er an der Bike-Benefit-Kampagne teilnimmt, zeigt ihm die App im Zentrum gerade mal 16 Kilometer pro Stunde an. Schuld daran sind die vielen Stop-and-gos , vorgeschriebene Seitenwechsel und Bettelampeln im Stadtzentrum. Die Stadtplaner*innen bremsen Radfahrer*innen in Hannover aus.
Brandt hält sich trotzdem strikt an die Verkehrsregeln. „Als ADFC-Mitglied bin ich Vorbild“, sagt er. Außerdem erfährt er so buchstäblich, wo es in der Stadt auf den Radwegen hakt. Aber Brand ist eine Ausnahme.
Andere Fahrer*innen nutzen Schleichwege oder radeln zum Abkürzen auch mal ein paar Meter über den Gehweg. Die Planer*innen ahnen das, belegen können sie es jedoch nicht. Dafür fehlen die wissenschaftlichen Untersuchungen. Daten zum Radverkehr sind Mangelware. Dies wird zunehmend zum Problem.
Die Klimakrise, Staus und schlechte Luft zwingen die Städte zum Umdenken. Sie müssen den Radanteil in ihren Zentren zügig steigern. Das österreichische Unternehmen Bike Citizens hilft den Städten dabei. Sie verführen Radfahrer*innen, ihre täglichen Wege zu tracken und diese Daten mit der Stadt zu teilen. Dafür erhalten die Teilnehmer*innen kleine Preise oder auch mal ein neues Fahrrad.
Mit Hilfe der Bike-Benefit-App zeichnen die Fahrer*innen sämtliche Routen anonymisiert auf. Mit jeder Fahrt sammeln die Radler*innen Punkte. Diese können sie gegen Kinokarten, einen kostenlosen Kaffee oder andere Kleinigkeiten in ihrer Umgebung eintauschen. Bei Gewinnspielen oder Verlosungen können sie immer wieder attraktive Preise wie ein Faltrad oder begehrte Konzertkarten gewinnen. Auf diesem Weg werden die Fahrer*innen motiviert, auch über einen längeren Zeitraum mitzumachen.
Über eine Million Kilometer haben die Bürger*innen Bremens auf diesem Weg in den vergangenen Jahren getrackt. 2013 startete die erste Kampagne. Seitdem wurde die App 60.000-mal heruntergeladen. Immer noch liefern einige der ersten Nutzer*innen Daten. Ihre Routen werden auf Heatmaps angezeigt. Je häufiger ein Straßenabschnitt befahren wird, umso intensiver wird seine Färbung. Auf diese Weise erkennen die Planer*innen sofort die beliebten Routen in ihrer Stadt.
Neben den zurückgelegten Strecken werden auch das Tempo und die Stopps per GPS registriert. Die Daten gleicht Bike Citizens mit dem Kartendienst OpenStreetMap (OSM) ab. Mithilfe verschiedener Analyse-Tools kann das Unternehmen so genau abbilden, an welchen Kreuzungen Radfahrer*innen lange warten müssen, zu welcher Tages- und Jahreszeit sie unterwegs sind, welche Schleichwege sie nutzen und welche Wege sie meiden. Die Datensammlung ist für die Planer*innen enorm wertvoll.
„Früher konnte man die Radfahrenden an einer Kreuzung nur zählen. Jetzt weiß man, woher sie kommen und wohin sie wollen“, sagt Anne Mechels, die in der Bremer Senatsverwaltung die Nahmobilität plant. Das Potenzial der Daten sei riesig. „Wir beginnen gerade erst, diesen Schatz zu heben“, sagt sie.
Langfristig können diese Daten die Grundlage künftiger Planungen werden. „Momentan bestätigen wir mit ihnen vor allem unsere aktuelle Planung“, sagt sie. Dazu gehört der Bau einer neuen Rad-und Fußgängerbrücke über die Weser. Sie soll die Wilhelm-Kaisen-Brücke entlasten, die Hauptverkehrsader für Radfahrer*innen Richtung Innenstadt. Zu Spitzenzeiten sind hier 22.000 Autofahrer*innen und bis zu 18.000 Fahrradfahrer*innen unterwegs. In der Hauptverkehrszeit ist jeder Schlenker auf dem schmalen Radweg gefährlich.
Die neue Brücke soll in Sichtweite der alten nur 400 Meter weiter östlich verlaufen. Das Analyse-Tool Simulation von Bike Citizens zeigt bereits jetzt: 28 Prozent der Radfahrer*innen werden die neue Querung nutzen, weil ihre Wege kürzer werden. Anne Mechels und ihre Kolleg*innen ahnten, dass das Potenzial groß sei. Der hohe Wert hat sie jedoch überrascht.
Für die Verkehrsplaner*innen ist diese Erkenntnis wichtig. Erstmals können sie mithilfe von Radverkehrsdaten konkrete Aussagen über die Wirksamkeit von Bauvorhaben treffen. Sie liefern objektive Argumente für oder gegen den Bau von Radinfrastruktur. Für den Autoverkehr existieren diese Datenanalyse-Tools und Verkehrsmodelle seit Jahrzehnten. Für den Radverkehr ist das neu.
Anne Mechels geht davon aus, dass deutlich mehr Radfahrer*innen die neue Brücke nutzen werden, als das Analyse-Tool errechnet hat. Ihre Erfahrung zeigt: Radfahrer*innen nehmen Umwege in Kauf, wenn die Strecke attraktiv ist. Das wird die neue Brücke sein.
Die geplante Route verläuft autofrei und über den anschließenden Radweg in der Innenstadt auf einer sogenannten Premiumroute durchs Grüne. So werden auch mehr Menschen zum Radfahren eingeladen, die heute noch mit dem Auto durch die Stadt fahren. Aber ihre Erfahrung und ihr Bauchgefühl lassen sich nicht in Zahlen fassen, noch nicht. Um diese Umsteiger*innen zu erfassen, müsste Bike Citizens ein neues Tool entwickeln.
Das macht das Unternehmen aus Graz seit 2011. Begonnen hat Bike Citizens mit einer Navigation, die Radfahrer*innen abseits viel befahrener Hauptrouten durch die Stadt lotst. Seitdem entwickelt das Unternehmen permanent digitale Lösungen, um das Radfahren in der Stadt leichter und sicherer zu machen. Oftmals passen sie dabei ihre Angebote an die Bedürfnisse ihrer Kund*innen an. Ein Beispiel ist die „Ping-if-you-care“-Kampagne: Dabei handelt es sich um ein Meldesystem, über das Radfahrer*innen während der Fahrt Problemstellen in der Stadt markieren können.
Den Planer*innen der Stadt Amsterdam war diese Idee zu einseitig. Die niederländische Hauptstadt hat bereits einen Radanteil von 36 Prozent, den sie weiter steigern will. Das ist sportlich. Das Wegenetz dort ist bereits lückenlos. Für Pendler*innen gibt es Radschnellwege ins Zentrum, allein 11.000 Stellplätze am Bahnhof und Vorrangrouten durch die Stadt.
Die Planer*innen wissen sehr genau, wo und wie Radfahrer*innen unterwegs sind. Ihnen fehlen die Informationen, was sie gut finden und was sie stört. „Wir wollen das Netz stärker an die Bedürfnisse der Radfahrer*innen anpassen“, sagt Geert Prins, Stadtplaner in der Gemeinde Amsterdam.
„Het nieuwe fietsen“ – das neue Radfahren ist eines der drei zentralen Ziele des Amsterdamer Radverkehrsplans, der von 2017 bis 2022 gilt. Radfahren soll schöner werden in Amsterdam. Dafür hat die Stadt in Zusammenarbeit mit dem Fahrradverband Fietsersbond die Teilnehmer*innen mit Ping-Buttons ausgerüstet und vier Wochen durch die Stadt geschickt. 700 von ihnen haben via Bluetooth rund 44.000 Stellen markiert. Die zugehörige Heatmap für Amsterdam bietet detaillierten Aufschluss über die in ermittelten Radverkehrsdaten.
„Der Hauptkritikpunkt war die schlechte Oberfläche der Straßen“, sagt Prins. Das Kopfsteinpflaster ist unbequem und bremst Radfahrer*innen aus. Allerdings ging es auch darum, was gut läuft. Besonders die Routen durch die Parks sind beliebt. „Hier wollen wir nun die Anschlussrouten verbessern, damit die Radfahrer*innen die Strecken noch lieber nutzen“, sagt der Stadtplaner.
Prins weiß: Die Erwartungshaltung der Teilnehmer*innen ist hoch, sie wollen, dass sich schnell etwas verbessert. Schnelle Einsatzteams sind aber unrealistisch. Die einzelnen Punkte werden jetzt nach und nach in Projekten abgearbeitet. Das verlangt eine gute Kommunikation. „Wir haben den Teilnehmer*innen von Anbeginn gesagt, dass die Kampagne Teil unserer Radstrategie ist und dass die Umsetzung ihrer Beiträge Zeit dauern wird“, sagt Prins.
Deshalb sind die Ergebnisse des Ping-Projekts auf der Kampagnen-Webseite veröffentlicht und die Daten detailliert für jeden Stadtteil in einer Broschüre aufbereitet. Die ausführliche Planung mit allen hinterlegten Ideen und Planungsvorhaben sehen nur die Planer*innen und der Fietserbond. Der Verband hat ebenfalls Zugriff auf die Daten und hat einen Spezialisten beauftragt, der die Daten weiter aufbereitet.
Er hat beispielsweise herausgearbeitet, welche Strecken in der Stadt die Radfahrer*innen besonders mögen. Dazu gehört der breite Radweg auf der Kaistraße De Ruijterkade. Zu Hauptverkehrszeiten ist hier ein Schwarm von Fahrradpendler*innen unterwegs. Aber die Wege sind breit, die Oberflächen gut und die Führung übersichtlich, so dass sich hier jeder sofort zurechtfindet und es für jeden gut rollt. Dank dieser Auswertung profitieren bereits heute einige Alltagsfahrer*innen von den Erfahrungen der Ping-if-you care-Teilnehmer*innen.
Auf derart detaillierte Auswertungen für Hannover muss Ronald Brandt noch eine Weile warten. Für den Fahrradaktivisten sind solche Ergebnisse wichtig, um sie mit den Forderungen seines Verbands in der Region abzugleichen. Bis es soweit ist, trinkt er regelmäßig einen Kaffee, den er sich per Radfahren verdient. Ein weiterer Nebeneffekt: Auf seiner persönlichen Bike-Citizens-Heatmap sieht er genau, wo er unterwegs ist. Dabei ist ihm aufgefallen: Im Osten der Stadt ist er selten. Dorthin soll demnächst eine Tour gehen, um mal wieder etwas Neues zu entdecken.