Künstlicher Intelligenz entgeht nichts. Ihr Einsatz in der Verkehrsplanung könnte helfen, Probleme in der Infrastruktur aufzudecken und die Straßen für alle deutlich sicherer zu machen. Am Ende könnte sie so mehr Menschen aufs Fahrrad bringen.
Wer täglich unterwegs ist, kennt die Problemzonen seiner Stadt genau. Wer Fahrrad fährt, weiß, wo Dooring droht, also Unfälle durch unachtsam geöffnete Fahrzeugtüren. Wer Auto fährt, kennt die Knotenpunkte, an denen beim Rechtsabbiegen besonders auf Radfahrende zu achten ist, und weiß, an welchen Stellen Menschen zur Rushhour schon mal quer über die Straße laufen, um ihren Bus zu erwischen.
Den Stadt- und Verkehrsplaner:innen bleiben viele dieser kritischen Situationen verborgen. Bei ihren Ortsterminen erleben sie oft nur einen kleinen Ausschnitt des komplexen Verkehrsgeschehens. Der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) könnte das ändern. Die digitale Technologie ist in der Lage, das Gesamtbild sichtbar zu machen. Ihre Nutzung könnte den Verkehr für alle Menschen sicherer gestalten.
Millionen Menschen nutzen KI bereits täglich, wenn sie per Gesichtserkennung ihre Smartphones entsperren, Texte aus fremden Sprachen übersetzen oder ihr Auto automatisch den Abstand zum Vordermann einhalten lassen. Ein Vorteil von KI, der bei dieser Alltagsnutzung noch nicht erkennbar wird: Sie kann im Gegensatz zu gängiger Software auch Fragen beantworten, die nicht in ihrem Code hinterlegt sind.
Dieses Abstrahieren ist erst in den vergangenen Jahren möglich geworden – dank steigender Prozessorleistung, höherer Internet-Bandbreite und via Cloud verfügbarer Daten. Seitdem eröffnen sich ständig neue Einsatzmöglichkeiten, auch in der Mobilität.
In der Stadt- und Verkehrsplanung steht der Einsatz von KI-Systemen noch am Anfang. Beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) gab es beispielsweise ein erstes Projekt, in dem eine KI eine riesige Menge an Verkehrs-und Infrastrukturdaten durchforstet hat, um die Wirksamkeit von Umbaumaßnahmen bezüglich der Verkehrssicherheit zu beurteilen.
Das Berliner Start-up Peregrine widmet sich einem ähnlichen Thema: Das Team um Mitbegründer Steffen Heinrich hat eine Software entwickelt, die Videoaufnahmen des Verkehrsgeschehens mittels KI analysiert. Sie geht dabei vor wie früher Schiffskapitäne, die jedes Ereignis während der Fahrt akribisch in dicken Logbüchern notierten.
Die KI ist allerdings deutlich penibler: Sie notiert alle Verkehrsteilnehmer:innen, vermerkt, wie die Infrastruktur beschaffen ist, ob es Schlaglöcher gibt, eine kaputte Straßenlaterne oder wie genau die Straße aufgeteilt ist. Dabei werden personenbezogene Daten wie Kennzeichen oder Gesichter laut Peregrine aus Datenschutzgründen vor dem Speichern entfernt. Anschließend kann die KI gezielte Fragen beantworten, etwa nach Beinahe-Unfällen an Kreuzungen oder Dooring-Hotspots.
Doch das ist nicht alles: Die Software kann auch eine komplette Inventur der Infrastruktur durchführen und sämtliche Schwachstellen einer Stadt auflisten, zum Beispiel jene, an denen die Menschen stets zu schnell fahren oder die Barrierefreiheit durch zu hohe Bordsteine eingeschränkt wird. „Oft entstehen Verkehrsrisiken durch infrastrukturelle Gegebenheiten, die erkannt und verändert werden müssen“, meint Heinrich.
Bislang konnten kaum Daten zu solchen Risiken erhoben werden, weil die Technik fehlte. Dabei sind Fast-Zusammenstöße in vielen Innenstädten ein relevantes Problem. Eine Vorstellung davon geben die zahlreichen Videos von Beinahe-Kollisionen, die Radfahrende mit Helmkameras aufzeichnen und in den sozialen Medien teilen.
Grafik: Peregrine Technologies
Wie sehr solche Beinahe-Unfälle das Mobilitätsverhalten der Menschen beeinflussen, zeigt Rachel Aldreds Studie „Investigating the rates and impacts of near misses and related incidents among UK cyclists“ von 2015. Für die Studie haben 2.586 Radfahrer:innen an zwei Tagen eine Art Tagebuch geführt und unangenehme Erlebnisse im Straßenverkehr protokolliert. Rund 6.000 Zwischenfälle sind dabei zusammengekommen. Die meisten Teilnehmer:innen erlebten an dem betreffenden Tag gleich mehrere Zwischenfälle, wie die genaue Analyse zeigt. Jeder siebte Vorfall war ein Beinahe-Zusammenstoß mit einem Bus oder einem Lkw. Auf der Liste der wahrgenommenen Risiken standen außerdem Autos, die mit zu geringem Abstand überholten, blockierte Radwege, Dooring sowie gefährliche Situationen beim Abbiegen und andere Beinahe-Unfälle.
Die routinierteren unter den Fahrradfahrer:innen habe die hohe Zahl an Vorfällen selbst erstaunt, sagt Rachel Aldred. Sie hätten diese Risiko-Situationen gar nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen. Ungeübte und unsichere Radfahrer:innen hätten die Vorfälle hingegen so erschreckt, dass sie das Radfahren unverzüglich wieder aufgaben.
Der Einsatz von KI, der die Straßen mittelbar sicherer macht, kann demnach dabei helfen, Menschen aufs Fahrrad zu bringen. Das ist für die vielen deutschen Städte relevant, die den Radverkehr fördern wollen, um ihre Klimaziele zu erreichen. Könnten sie mithilfe von KI Gefahrenzonen für Radfahrer:innen reduzieren oder entschärfen, würden sie Autofahrer:innen den Umstieg erleichtern. Noch wird KI zwar nicht von den Verwaltungen genutzt, aber das Interesse sei da, sagt Steffen Heinrich von Peregrine: „Momentan führen wir Gespräche für verschiedene Projekte in großen und kleineren Städten.“
Welche Vorteile der Einsatz von KI den Städten bietet, lässt sich am Beispiel Berlin zeigen. Im Rahmen des Berliner Mobilitätgesetzes sollen dort jedes Jahr 30 Kreuzungen so umgebaut werden, dass Radfahren in der Hauptstadt sicherer und komfortabler wird. „Das Verkehrsgeschehen ist an Kreuzungen sehr komplex, weil hier alle Verkehrsteilnehmer aufeinandertreffen, vom Schwerlastverkehr bis zum Fußgänger. Das Risiko für Fußgänger und Radfahrer ist deshalb besonders hoch“, so Heinrich.
Es besteht also großer Handlungsbedarf. Will man die gefährlichsten Kreuzungen zuerst umbauen, benötigt man die entsprechenden Daten. Vielerorts gibt es bereits fest installierte Kameras an Kreuzungen, allerdings werden sie bislang nicht automatisiert ausgewertet. An diesem Punkt kommt die Software von Peregrine ins Spiel.
Foto: Peregrine Technologies
„Unsere erste Frage ist: Nutzen die Personen die Infrastruktur korrekt oder gibt es Probleme?“, erläutert Geschäftsführer Heinrich. Manchmal müssten Radfahrer:innen einen Schlenker auf die Fahrbahn machen, weil Fahrzeuge in zweiter Reihe parken. Parkende Autos, zugewucherte Wege oder sonstige Hindernisse können Kinder auf dem Schulweg verdecken oder Erwachsene auf die Straße zwingen.
„Wenn die KI das Risiko gemessen hat, können die Planer aus den Daten eine Handlung ableiten“, erklärt Heinrich, etwa, dass im Frühjahr Sträucher frühzeitig zurückgeschnitten werden oder das Zuparken des Kreuzungsbereichs verhindert werde. Für den Software-Experten steht fest: „Es muss nicht mehr zum Unfall kommen, bevor der Umbau der Kreuzung beschlossen wird. Die Planer können frühzeitig Maßnahmen ergreifen, weil sie die Risiko-Hotspots in ihrer Stadt vergleichen können.“
Die KI sagt, was ist. Konsequent eingesetzt kann sie zu einer Fürsprecherin der nicht-motorisierten Mobilität werden. Dafür müssen ihr die Entscheider:innen in den Verwaltungen allerdings die richtigen Fragen stellen. Sie legen weiterhin fest, welche Kreuzungen umgebaut oder welche Radwege neu gebaut werden, wie der Verkehrsmix der Zukunft aussehen soll und wer schließlich Vorfahrt erhält. Allerdings wird die Datengrundlage für ihre Entscheidungen durch den Einsatz von KI so groß wie nie zuvor.