Genderspezifische Mobilitätsangebote treiben die Verkehrswende voran – jedenfalls theoretisch. In der Praxis muss zunächst die Sicherheit der Radfahrenden und allgemein im öffentlichen Verkehr deutlich steigen, damit das klappt. Städte wie Kopenhagen, Rotterdam und Hannover ziehen Schlüsse aus den Daten – und gehen mit guten Beispielen voran.
Wer klimafreundliche Mobilität in seiner Stadt fördern will, sollte mit den Frauen sprechen. Internationale Studien zeigen, dass Frauen im Alltag umweltfreundlicher unterwegs sind als die Mehrheit der Männer. Sie gehen öfter zu Fuß, fahren mit dem Rad und benutzen häufiger öffentliche Verkehrsmittel. Allerdings hat ihre Wahl der Verkehrsmittel auch Schattenseiten. Viele Frauen fühlen sich nicht sicher, wenn sie in ihrer Stadt unterwegs sind. Das gilt für Hamburg ebenso wie für Helsinki oder Bogota. Allein im Frühjahr 2020 erklärten 450 Hamburgerinnen in der Umfrage „Safe in the City“ vom Kinderhilfswerk Plan International, dass sie sich an 85 Prozent der Orte, die sie regelmäßig passieren, unwohl fühlen oder bereits belästigt wurden.
Erfahrungen wie diese beeinflussen die Wahl des Verkehrsmittels und damit auch die Mobilitätswende. Studien zeigen, dass Menschen schnell aufs Taxi oder den Privatwagen umsteigen, wenn sie verunsichert sind oder gar Angst haben. Während der Corona-Pandemie stiegen 2020 rund 41 Prozent der ÖPNV-Nutzer:innen auf das Auto um, nur 20 Prozent auf das Fahrrad. Verkehrsexpert:innen blicken in diesen Momenten besonders auf die Frauen. Sie verbinden mit dem Auto Sicherheit und die ist ihnen im Alltag – in allen Verkehrsmitteln – deutlich wichtiger als Männern. Das illustriert auch die Studie „Gender & (Smart) Mobility“ (PDF) die das Mobilitätsverhalten beider Geschlechter in sieben Hauptstädten der Welt untersucht. Ihre und weitere Ergebnisse verdeutlichen, dass eine Mobilitätsplanung für Frauen ein umweltfreundliches Mobilitätsangebot schafft, das alle gut finden.
Kopenhagen ist dafür das Paradebeispiel. Die Hälfte aller Wege zur Arbeit oder zur Ausbildung werden laut der Erhebung „The Bicycle Account 2018“ (PDF) dort seit Jahren mit dem Rad zurückgelegt. Frauen bilden in Dänemark mit 53 Prozent sogar eine knappe Mehrheit. Das ist ungewöhnlich, da in der Regel mehr Männer in den Städten mit dem Rad unterwegs sind. Marianne Weinreich wundert das nicht. Die Verkehrsexpertin ist Vorsitzende der dänischen Fahrradbotschaft und arbeitet bei dem Beratungsunternehmen Ramboll, dem Auftraggeber der erwähnten Studie „Gender & (Smart) Mobility“. Sie sagt, dass in den meisten Städten der Welt Radfahrende immer noch Mut benötigten und beim Fahren im Mischverkehr sehr wachsam sein müssten, weil die Radinfrastruktur sich an jeder Ecke ändere oder plötzlich im Nichts ende.
In Dänemark sei das anders. Dort sind die Radnetze geschlossen und werden nach einheitlichen Standards gebaut. Autos und Fahrräder werden an Hauptstraßen konsequent voneinander getrennt. In den Quartieren, in denen Frauen im Alltag oft unterwegs sind und häufig anhalten, sind sie auf Fahrradstraßen unterwegs. Das bedeutet, dass die Autos den Radler:innen folgen, ohne zu drängeln. Manche nennen das Fahrradkultur, andere gelerntes Verhalten.
Entscheidend ist: Es ist entspannt. „Die Frauen fühlen sich sicher“, sagt Marianne Weinreich, weil die Infrastruktur sicher für alle Radfahrer:innen sei. Das ermöglicht Frauen die klimafreundliche Entscheidung für das Rad im Alltag. „Der Aspekt Verkehrssicherheit ist Frauen wichtig, das zeigt unsere Studie“, ergänzt Marianne Weinreich. Frauen sehen ihn zu 26 Prozent mehr als Männer als ausschlaggebenden Faktor pro oder kontra Radfahren.
Neben der Infrastruktur spielen aber auch kulturelle Aspekte eine Rolle, um den Anteil an Radfahrerinnen gezielt zu fördern. Was das heißt, zeigt Rotterdam. Die Hafenstadt hatte lange Zeit den niedrigsten Radanteil am Gesamtverkehr in den Niederlanden. Das soll sich nun ändern. Mehr noch: Die Stadt will klimaresilient werden, grüne Oasen im Zentrum schaffen und die Innenstadt zur City-Lounge umbauen. Dafür muss die Zahl der Autofahrer:innen drastisch gesenkt werden und die Zahl der Radfahrer:innen und Fußgänger:innen steigen. Um den Wandel schnell zu schaffen, wurde im Rahmen des „Fietsplan Rotterdam 2016–2018“ der Anteil der Radfahrenden am Gesamtverkehr in den verschiedenen Stadtteilen analysiert.
Dabei stellte sich heraus, dass das Gefälle zwischen dem Norden und dem Süden der Stadt riesig ist. In dem ehemaligen Hafengebiet südlich der Maas werden 30 Prozent weniger Wege mit dem Rad zurückgelegt. In der Region leben traditionell viele Hafenarbeiter:innen und Migrant:innen. „Wir hatten die Daten, kannten aber ihren kulturellen Hintergrund nicht gut genug“, erklärt Bart Christiaens, Fahrradkoordinator der Stadt Rotterdam.
In einer weiteren Datenerhebung fragte sein Team die Bewohner:innen in den Quartieren explizit, wie sie im Alltag unterwegs sind, was ihnen am vorhandenen Mobilitätsangebot gefällt oder was sie stört. Dabei stellte sich heraus, dass viele Bewohnerinnen im Süden von Rotterdam gar nicht Rad fahren können. Die erwähnte Ramboll Studie bestätigt, dass ein Drittel der Frauen in den sieben untersuchten Hauptstädten nicht Rad fahren kann (sieben Prozent) oder kaum Erfahrung hat (26 Prozent). Bei den Männern ist der Anteil an Nichtradfahrern mit drei Prozent und 16 Prozent unerfahrenen Radlern deutlich geringer.
„Der Bau von Radwegen allein brachte uns also nicht weiter“, sagt Christiaens. Vielmehr benötigten sie Trainerinnen, die die Frauen unterrichten. Über das Projekt „Fiets Mee“ haben in den vergangenen vier Jahren über 1.000 Teilnehmerinnen das Radfahren gelernt. Außerdem wurde eine „Fietsenbank“ (Fahrradbank) für diejenigen eingerichtet, die sich kein eigenes Fahrrad leisten können. Rund 1.000 verwaiste Räder übergibt die Stadt seitdem jedes Jahr, unter anderem an die lernenden Frauen.
Für Christiaens ist das ein Anfang, um eine Fahrradkultur in dem Gebiet zu entwickeln. Die Basis dafür bildete die Kombination von Daten und persönlichen Gesprächen. Sie zeigte die sozialen und kulturellen Unterschiede auf und ermöglichte es Christiaens und seinem Team, ein passgenaues Angebot für die Menschen vor Ort zu entwickeln.
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Nutzer:innenspezifische Angebote heißt das im Fachjargon. In Bus und Bahn wünschen sich Frauen davon deutlich mehr. „66 Prozent der Nutzer von Bussen und Bahnen weltweit sind Frauen“, zitiert Lieke Ypma Befunde des Women-in-Mobility-Netzwerks. Ypma ist Ingenieurin und Innovationsstrategin bei der Mobilitätsagentur White Octopus. Abends und nachts fühlen sich viele von ihnen in der Bahn oder beim Warten an den Haltestellen unwohl oder fürchten, von Männern belästigt zu werden.
Was Frauen genau stört und welche Strategien sie entwickeln, hat die Ingenieurin mit ihren beiden Kolleginnen Frieda Bellmann und Diana Polack in einem Workshop mit 40 Fachfrauen des Mobilitätssektors zusammengetragen. Die Strategien, um kritische Situationen zu vermeiden, sind vielfältig. „Einige telefonieren, wenn sie unterwegs sind, um den Anschein von Gesellschaft und Kontrolle zu vermitteln, andere stellen sich an den Haltestellen zu Gruppen, die vertrauenswürdig aussehen, und setzen sich im Bus in die Nähe des Fahrers“, erklärt Lieke Ypma.
„In der Gesellschaft wird Sicherheit in Bussen und Bahnen häufig auf den Schutz vor massiven Gewalttaten reduziert“, erläutert Katja Striefler vom Fachbereich Verkehr der Region Hannover. Aber die subjektive Unsicherheit beginne viel früher, etwa, wenn Menschen im Bus angestarrt oder beleidigt werden. Das ist ein Problem für die Verkehrsbetriebe. „Wer sich unsicher fühlt, fährt seltener oder gar nicht“, so Katja Striefler. Im schlechtesten Fall steigen die Menschen auf den Privatwagen um.
Katja Striefler, Fachbereich Verkehr der Region Hannover. Foto: Sandra Kühnapfel
Die Region Hannover setzt deshalb immer mehr auf Prävention und Service. Seit 2006 fährt in jeder S-Bahn abends ab 20 Uhr Sicherheitspersonal mit. Ab Sommer 2022 sollen außerdem alle S-Bahnen von Servicemitarbeitenden begleitet werden. Die Idee ist nicht neu. Katja Striefler hat das Konzept bereits vor Jahren mit unterschiedlichen Expert:innen aus allen Abteilungen vom Qualitätsmanagement bis hin zur Psychologie entwickelt. Jetzt wird es nach und nach umgesetzt.
„Wir wollen, dass alle Menschen sich in der S-Bahn wohlfühlen“, sagt sie. Dieser Ansatz, ein Angebot für alle Menschen zu schaffen, ist gendergerechte Planung. Lieke Ypma sieht darin eine echte Chance, um klimafreundliche Mobilität wie das Bus- oder Bahnfahren für alle Verkehrsteilnehmer:innen attraktiver zu gestalten. „Der Blick durch die weibliche Brille ist ein Perspektivwechsel, der das komplette Angebot auf den Kopf stellen kann und jeden Aspekt hinterfragt“, so Ypma.
Diese Form des Querdenkens spielt auch in der gendergerechten Stadtplanung zunehmend eine Rolle. In der Umfrage „Safe in the City“ (PDF) haben Frauen und Mädchen für Berlin, Hamburg, Köln und München angegeben, dass sie an 80 Prozent der Orte, an denen sie regelmäßig unterwegs sind, schon einmal belästigt wurden oder sich unwohl fühlen.
Die Gründe kennen die Planer:innen seit Jahren. Sie reichen von schlecht beleuchteten Straßen und Unterführungen bis hin zu Gegenden, in denen Hilfe im Notfall fehlen würde. Im Ausland beginnt für Plan International nach den Umfragen die Arbeit. Mit lokalen Partner:innen, den Mädchen und Frauen identifizieren sie bei sogenannten Safety-Walks die Probleme und entwickeln Lösungen.
Viele Lösungen sind Klassiker, wie das Zurückschneiden von Hecken oder mehr Licht für Straßen und Unterführungen. Manchmal werden aber auch kreative Lösungsansätze für schwierige Situationen gefunden. „Manche Kioskbesitzer in Indien bieten Mädchen und Frauen an, neben ihrem Kiosk auf den Bus zu warten, damit sie nicht allein an den Haltestellen warten müssen“, sagt Alexandra Tschacher, Sprecherin von Plan International Deutschland. Mit Stickern an der Haltestelle wird auf das Angebot hingewiesen. „Es geht darum, angstfreie Alltagsmobilität zu ermöglichen“, ergänzt sie. Dazu gehöre neben dem Umbau der Infrastruktur auch das Aufbrechen von Rollenbildern und Einstellungen.
Alexandra Schacher, Plan International Deutschland
„Frauen dürfen nicht in die Opferrolle gedrängt werden“, betont auch Marianne Weinreich. Im Gegenteil: Mehr Sicherheit im Mobilitätsangebot komme schließlich allen zugute. Deshalb soll Sicherheit zukünftig ein integraler Bestandteil der Mobilitätsplanung werden. Weinreich ist zuversichtlich, dass das funktioniert. „Die Diskussion um mehr frauenfreundliche Angebote hat begonnen“, erklärt sie, „und sie lässt sich nicht mehr aufhalten.“ Das ist gut so, denn die Städte benötigen mehr klimafreundliche Mobilität, wenn sie den Klimawandel eindämmen wollen.