Unabhängig voneinander entwickelt, ergänzen sich die Projekte OpenBikeSensor, SimRa und BikeSim dennoch bestens: Anhand der Daten von Bürger:innen zeigen sie, wo diese mit dem Fahrrad entlangfahren und wo sich Gefahrensituationen befinden. Alle drei Projekte erhielten kürzlich den Deutschen Fahrradpreis 2022.
Radfahrende, die in innerstädtischen Räumen unterwegs sind, mit dichtem Autoverkehr und vollen Kreuzungen, sind vielen Gefahren ausgesetzt. Doch wo genau befinden sich die besonders gefährlichen Stellen und Straßenabschnitte? Worin begründen sich die dort erhöhten Risiken oder vermehrten Vorfälle? Mit welchen baulichen oder verkehrsführenden Maßnahmen ließen sie sich womöglich entschärfen oder beseitigen?
Für Antworten auf solche Fragen eignen sich unter realen Bedingungen gemessene und „belastbare“ Daten besonders gut, beispielsweise zu den Abständen beim Überholen von Radfahrenden durch Pkw, Lieferwagen, Busse oder Lkw. Sie lassen sich exakt messen, etwa mit dem OpenBikeSensor, einem kleinen Kästchen, das am Fahrradrahmen montiert wird. Diese Erfindung geht zurück auf den sogenannten Radmesser, ein 2018 gestartetes Projekt der Berliner Zeitung Der Tagesspiegel. Die Weiterentwicklung zum OpenBikeSensor (OBS) enthält GPS-Tracker und Sensoren, die die Abstände links und rechts des Rads zu Fahrzeugen, die überholen, vorbeifahren oder am Fahrbahnrand stehen, messen. Der OBS gibt die gespeicherten Messwerte über eine Hardware-Schnittstelle (via WLAN) an einen Server, über den sie für Webseiten oder Smartphone-Apps abrufbar sind.
Mögen einzelne Messungen zunächst „nur“ individuelle Erlebnisse dokumentieren, können Hunderte aufgezeichnete Fahrtendaten im selben Stadtraum Rückschlüsse zulassen, etwa wenn sich geringe Abstände von überholenden Autos an bestimmten Straßenabschnitten häufen. Das könnte auf eine zu enge Wegeführung hinweisen oder auf die gefürchteten Einfädelungen von endenden Radwegen auf die Straße.
Um an möglichst viele Messdaten zu kommen, will das OBS-Projektteam – ein ehrenamtlich geführter Verein ist in Gründung – möglichst viele Bürger:innen für eine Teilnahme gewinnen. Daher gibt es die entsprechende Box als Open Source heraus: Sowohl die Baupläne als auch das fertige Produkt sind unter offener Lizenz veröffentlicht, ohne Patent- oder Markenschutz. Vielmehr kann sich jede:r die Bauteile bestellen und die Box selbst zusammenbauen – entsprechendes Werkzeug (Lötkolben, Zange etc.) und etwas Geschick vorausgesetzt.
Screenshot: Emmett, Quelle: Youtube/OpenBikeSensor.org
Abbildung: Zweirat Stuttgart
Damit ist der OpenBikeSensor sowohl ein Citizen-Science- als auch ein Do-it-yourself-Projekt, das gut ankommt. Angaben der Macher:innen zufolge entstehen in immer mehr Städten kleine Communitys von lötenden und radelnden OBS-Engagierten, insgesamt seien schon rund 1.000 Bürger:innen mit dabei. Zudem würden auch Kommunen und Forschungseinrichtungen mit den durch den OBS aggregierten Daten arbeiten, etwa die Region Hannover und die Stadt Konstanz sowie das Stuttgarter Verkehrsforschungsprojekt CAPE REVISO.
Auf einer interaktiven Deutschlandkarte ist verzeichnet, wo OBS-bewehrte Räder Abstandsdaten generieren. Die jeweils gespeicherten Daten sind ebenfalls frei zugänglich und nutzbar. Dieses rundum offene Konzept überzeugte auch die Jury des Deutschen Fahrradpreises und kürte den OpenBikeSensor mit dem ersten Platz in der Kategorie „Service & Kommunikation“.
Ebenfalls auf dem ersten Platz in derselben Kategorie des Deutschen Fahrradpreises landete das Projekt SimRa. Es geht einen Schritt weiter und verarbeitet unterschiedliche Radfahrdaten, die freiwillig Mitwirkende liefern. Darunter befinden sich beispielsweise auch jene, die die OpenBikeSensor-Community bilden.
Mit der kostenlosen und frei verfügbaren SimRa-App (für Android- und iOS-Smartphones) können Bürger:innen ihre Fahrten per GPS-Tracker aufzeichnen lassen. Hierbei nutzt die App auch die Beschleunigungssensoren des Smartphones, um Gefahrensituationsdaten zu protokollieren, etwa plötzliches Bremsen, Ausweichen oder Sturz. Darüber hinaus können die Radfahrenden gefährliche Ereignisse und Beinahe-Unfälle beschreiben, wofür sie typische Vorfälle aus einer vorbereiteten Liste wählen können, etwa „zu dichtes Überholen“. Das erleichtert die Beschreibung und führt zu vereinheitlichten, vergleichbaren Daten.
SimRa erfasst die Trackingdaten und die formatierten Reports und speichert sie als Open Data in einer frei zugänglichen Datenbank (Github). Auch in diesem Fall lassen sich Rückschlüsse ziehen, sobald sich über bestimmte Zeiträume hinweg an einzelnen Orten identische oder ähnliche Vorfälle häufen. Es entsteht sozusagen eine „Beinahe-Unfall-Statistik“, die sich wie eine Gefahrenstellenkartierung lesen und nutzen lässt. Auf der Ergebniskarte für Berlin beispielsweise zeigt sich für eine Nebenstraße des Kurfürstendamms – berüchtigt dafür, dass dort häufig Autos auf den Radspuren parken – eine Häufung an Gefahren durch das erzwungene Umfahren der Hindernisse, oft in den fließenden Autoverkehr hinein.
Abbildung: SimRa Project
SimRa wird mittlerweile in mehreren deutschen Städten und Regionen angewendet. Die Ergebnisse lassen sich in einem kontinuierlich aktualisierten Dashboard sowie den Ergebniskarten für die gewählte Stadt oder Region tagesaktuell ablesen. Mitunter ist die Menge gesammelter Daten noch zu gering für belastbare Aussagen oder Analysen. Aber für Städte mit einer drei- , vier- oder gar fünfstelligen Anzahl erfasster Fahrten lassen die farblichen Kennzeichnungen gehäufter Gefahrensituationen zumindest recht valide Erkenntnisse zu problematischen Punkten zu. Diese könnten den Behörden als Impulse dienen, straßenbauliche Gegebenheiten, Wegemarkierungen, Straßenschilder oder schlicht den Verkehrsalltag zu prüfen – und gegebenenfalls Maßnahmen einzuleiten, um die Situation an diesen Stellen zu verbessern.
Doch wie wirken sich etwaige Umbauten oder veränderte Verkehrsführungen in der Praxis auf das Verhalten von Radfahrenden aus? Funktionieren Verkehrslenkungen wie gewollt oder entscheiden sich die adressierten Verkehrsteilnehmenden doch für andere Wege?
Bei diesen Fragen setzt das mFUND-geförderte Projekt BikeSIM an, das beim Deutschen Fahrradpreis in der Kategorie „Service & Kommunikation“ den dritten Platz erzielte. BikeSIM ermöglicht, die Folgen einer Änderung der Verkehrsinfrastruktur in einer Simulation durchzuspielen. In einem virtuell nachgebauten Stadtraum lassen sich geplante oder potenzielle (Um-)Baumaßnahmen erstens direkt im Modell vornehmen. Zweitens bringt die Software virtuelle Verkehrsteilnehmende in Bewegung und simuliert deren wahrscheinliches Verhalten, beispielsweise, wenn eine Brücke eine neue Route ermöglicht, eine Straße zur Einbahnstraße umgewandelt oder eine Autospur zu einem Radweg wird.
Abbildung: bikeSIM (aus dem Abschlussbericht des Projekts, PDF)
Die errechneten Simulationen basieren auf GPS-Routendaten von rund 5.000 Fahrten, bei denen zirka 100 repräsentativ ausgewählte Radfahrer:innen aus Dresden ihr individuelles Verkehrsverhalten aufzeichnen ließen. Die Routendaten reicherten die Forscher:innen mit offenen Kartendaten an und analysierten die Routenwahl. Daraus entwickelten sie ihre Hochrechnungen, welche Routen-Entscheidungen Radfahrende wahrscheinlich treffen, sobald sie auf bestimmte (neue) Verkehrsinfrastrukturen treffen. Dies gilt auch für das Entstehen von Ausweichrouten und Schleichwegen – etwa, weil viele Radfahrende trotz neuer Radwege doch lieber die längere Route über Nebenstraßen wählen, bei der es aber weniger Ampeln oder weniger Autoverkehr, somit potenziell weniger Fahrtunterbrechungen und mehr Sicherheit gibt.
BikeSim entstand an der TU Dresden, ist aber laut den involvierten Wissenschaftler:innen auf viele Städte anwendbar: Kommunale Akteur:innen könnten in der zugehörigen Web-Applikation auch ohne Vorkenntnisse Radverkehrssimulationen für ein selbst entworfenes Szenario durchführen. Auf diese Weise ermöglicht es BikeSim insbesondere den örtlichen Verkehrsplaner:innen, dass sie zunächst im virtuellen Raum beobachten, wie ihre Pläne angenommen würden, bevor sie im realen Stadtraum die Bagger rollen oder Schilder aufstellen lassen. Dieses Vorgehen könnte nicht nur Baukosten sparen, sondern idealerweise auch nachhaltiger wirken, weil es die Sicherheit der Radfahrenden erhöht und zugleich auch deren typischem Verhalten entgegenkommt.