Foto: DLR Forschungsstelle Maritime Sicherheit Bremen

Das Foto zeigt das Bug eines Schiffes, es fährt auf eine verschneite Insel zu, im Meer schwimmen Eisschollen

Das Polar-Navi – wie die IcySea-App Eisdriftvorhersagen für die Schifffahrt trifft

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Martin Lewicki

Das Polar-Navi – wie die IcySea-App Eisdriftvorhersagen für die Schifffahrt trifft

Die polare Schifffahrt wächst, jedoch macht das driftende Eis die Durchfahrt schwierig. Dieser Problematik hat sich ein deutsches Start-up angenommen und eine App für Eisdriftvorhersagen entwickelt, die das Navigieren in den Polarregionen erleichtert. Emmett sprach mit dem Gründer Lasse Rabenstein.

Der Klimawandel sorgt seit Jahren für eine fortschreitende Eisschmelze in den Polarregionen. Satellitenaufnahmen zeigen, dass die Ausdehnung der arktischen Meereisfläche seit 1979 in den Sommermonaten um rund 37 Prozent zurückgegangen ist. Das führte dazu, dass sich in den letzten zehn Jahren die Nordostpassage (Northern Sea Route – kurz NSR) im Sommer für Schiffe öffnet. Sie verläuft entlang der nordsibirischen Küste und ist die kürzeste Verbindung zwischen Europa und Asien.

Das Forschungsschiff Polarstern im Polarmeer, umgeben von Eisschollen

Foto: Stefan Hendricks

Das Forschungsschiff Polarstern nutzte die IcySea-App bei einer Expeditionsfahrt.

Während der Seeweg von Hamburg nach Schanghai über den Suezkanal rund 20.000 Kilometer beträgt, sind es durch die Arktis 5.000 Kilometer weniger. Die Strecke von Rotterdam nach Tokio ist damit um ein Drittel kürzer. Warentransporte könnten schneller, günstiger und ökologischer erfolgen.

Da Treibstoff der größte Kostenfaktor im Schiffsverkehr ist, ergibt sich so ein enormes Einsparpotenzial. Bei einem großen Container-Frachter macht es Millionenbeträge aus – auf einer einzigen Fahrt. Außerdem werden bei einer kürzeren Route weniger Treibhausgase erzeugt.

Eisdriftvorhersagen hängen von vielen Faktoren ab

Im Jahr 2010 durchfuhr erstmals ein Frachter die Nordostpassage. Trotz anfänglicher Goldgräberstimmung blieb der erwartete Boom der Schifffahrt in der Arktis aus. Derzeit bewegt sich das jährliche Schiffsaufkommen in dieser Region im dreistelligen Bereich. Der Großteil davon entfällt allein auf den September. Der Wert ist verschwindend gering im Vergleich zum Suezkanal mit über 18.000 Schiffspassagen pro Jahr. Der Grund: Obwohl das Eis in den Sommermonaten in der Arktis stark zurückgeht, bleibt die Route gefährlich.

Vier Schiffe fahren im Konvoi zwischen den driftenden Eisschollen im Polarmeer.

Foto: Drift+Noise

Vier Schiffe fahren im Konvoi zwischen den driftenden Eisschollen im Polarmeer.

Zum einen ist die Region nicht verlässlich kartiert, sodass sich Eisdicke und Wassertiefe oft nicht genau bestimmen lassen. Auf Grund zu laufen, wäre katastrophal. Zum anderen müssen Schiffe an die härteren Bedingungen angepasst werden, benötigen beispielsweise einen eisgängigen Rumpf. Und dann gibt es noch die gefährliche Eisdrift. Dabei handelt es sich um Eisschollen, die zwar in eine Hauptrichtung treiben, aber abhängig von Wind, Meeresströmung und Temperatur ihre Geschwindigkeit ändern. Dadurch lassen sich Eisdriftvorhersagen nur schwer treffen.

Von der gemeinsamen Idee zur Zusammenarbeit im mFUND

Bereits seit Jahren beschäftigt sich Lasse Rabenstein mit der Eisdriftproblematik. Er gründete im Jahr 2016 das Start-up Drift+Noise, um die polare Schifffahrt mit verlässlichen Informationen über das sich ständig bewegende Eis zu versorgen. Etwa zwei Jahre nach der Gründung kam das Start-up im Rahmen eines Copernicus-Projekts (Anm. der Redaktion: Erdbeobachtungsprogramm der Europäischen Union) auf die Idee, eine App zu entwickeln, einen digitalen Dienst, der über Eisbewegungen in der Arktis und Antarktis informiert. Zur gleichen Zeit forschte die Firma König & Partner zusammen mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) an der Eisklassifikation von Satellitenbildern im mFUND-Projekt „EisKlass31“.

Über den mFUND fanden Drift+Noise und das DLR schließlich zueinander mit dem Ziel, klassifizierte Eisdaten in die geplante App einfließen zu lassen. Diese Zusammenarbeit mündete in dem mFUND-Projekt „EisKlass2“. Der Eisinformationsdienst sollte zudem der Herausforderung trotzden, dass Packeis jeden Tag um viele Kilometer driftet. Die Bewegung des Eises in die Navigationsberechnung einzubeziehen, war das Ziel des mFUND-Projekts FAST-CAST 1. Zusammen sollten die Projekte die Grundlage für die IcySea-App bilden, das Polar-Navi.

Grafische Darstellung des Polarmeeres in der App, die dort vorhandene Eisschollen und deren Bewegungen erfasst

Screenshot: Drift+Noise

In der IcySea-App sind grafische Darstellungen des Polarmeeres mit Satellitenbildern kombiniert. Die Farben stehen für den prozentualen Konzentrationsgrad des Eises (Hellblau steht für die geringste Dichte an Schollen).
Die Dynamik des Eises verstehen und berechnen

„Bei FAST-CAST 1 ging es darum, die Dynamik des Eises, wie es sich in den nächsten Tagen verändert, zu verstehen und wie man die Informationen zusammen mit Satellitenbildern in eine Anwendung bringt“, erklärt Drift+Noise-Geschäftsführer Rabenstein. Dabei gab es ein Big-Data-Problem, weil die kurzlebigen Daten über das Eis innerhalb von Stunden ihren Wert für die Navigation verlieren. Das bedeutet, alles muss sehr schnell berechnet und Nutzer*innen auf einem Schiff zur Verfügung gestellt werden. Gleichzeitig sind diese hochaufgelösten Daten auch sehr groß. Dies erfordert nicht nur eine hohe Bandbreite beim Herunterladen der Daten auf dem Schiff, sondern auch viel Rechenleistung im Hintergrund, um Eisdriftvorhersagen treffen zu können.

In FAST-CAST 1 haben sich die Beteiligten intensiv damit beschäftigt, wie sie die Rechenprozesse beschleunigen können. Schließlich wollen sie anhand der vorhandenen Daten und Satellitenbilder vorausberechnen, wie sich das Treibeis bewegen wird. Dank Verfahren der Künstlichen Intelligenz reduzierten sie die Rechenzeit auf einen Bruchteil. „Die Berechnung hat vorher bis zu 12 Stunden gedauert. Jetzt sind wir teilweise bei wenigen Sekunden. Das ging nur mithilfe von neuronalen Netzwerken, die wir gemeinsam mit der Universität Bremen entwickelt haben“, erläutert Rabenstein.

Eine App, die auch ohne Internetverbindung funktioniert

Obwohl die IcySea-App bereits Ende 2020 auf den Markt kam, ist sie fortlaufend in der Entwicklung. „Die App ist ein digitaler Dienst, den wir kontinuierlich verbessern“, sagt Rabenstein. Mittlerweile lässt sie sich nicht nur in der Arktis, sondern auch in der Antarktis anwenden. „Außerdem läuft sie stabil auf allen Systemen, egal ob auf einem Smartphone, Tablet oder Desktop“, betont er. Das sei nicht selbstverständlich für ein Produkt mit einem kleinen Team dahinter. Möglich sei das nur, weil die App browserbasiert funktioniert. „Wenn man unsere App will, muss man die Internetseite der App öffnen, sich dort registrieren und kann sie dann im Anschluss im Browser installieren“, erklärt der Unternehmer die Funktionsweise. Zudem läuft die Anwendung auch ohne Internetverbindung. Lediglich zum Laden aktueller Daten wird das Internet benötigt.

Auch das Problem mit den hochaufgelösten Satellitenbildern bekamen die Forscher*innen in den Griff. Die Crew auf dem Schiff entscheidet, in welcher Auflösung sie die Eisdaten sehen möchte. Oft reichen schon ein paar Kilobyte aus, um ein aktuelles Satellitenbild von einer bestimmten Stelle auf der Meeresroute herunterzuladen. Bei den hohen Kosten für eine Internetverbindung auf dem Schiff ist das ein großer Vorteil. Es gibt aber auch die Möglichkeit, detaillierte Bilddateien herunterzuladen. Mit ihnen kann die Schiffscrew die Größe der Eisschollen messen und deren Position bestimmen. Bis auf zehn Kilometer genau kann die App eine Zwei-Tage-Prognose über das vorhandene Eis abgeben. Für eine punktgenaue Prognose ist das noch nicht exakt genug. In Zukunft sollen aber eisfreie Korridore empfohlen werden können.

Daten werden lediglich kurzzeitig gespeichert
Grafische Darstellung des Polarmeeres in der App, die dort vorhandene Eisschollen und deren Bewegungen erfasst. Über dem Bild liegt ein grafisches Gitter mit quadratischen Kacheln, die zur Erfassung fest definierter geografischer Gebiete dienen

Screenshot: Drift+Noise

Die Software der IcySea-App nutzt quadratische Kacheln zur detaillierteren Einteilung der Eisgebiete.
Satellitenfotos des Polarmeeres in der App, die dort vorhandene Eisschollen und deren Bewegungen erfasst

Screenshot: Drift+Noise

Die Nutzer*innen der IcySea-App können in die Bilder hineinzoomen und sich die Prognose für die Eisdrift anzeigen lassen.

„Die Erfassung von Meereis für die Schifffahrt ist in Geschwindigkeit und Haltbarkeit mit dem Wetter zu vergleichen, es ändert sich stündlich und dauernd“, sagt Rabenstein. Meereis sei nicht mit den sich langsam verändernden Gletschern und Flächen der Eiskappen in Grönland und der Antarktis zu verwechseln. Aus den Informationen darüber lässt sich auch nicht ablesen, wie sich die weltweiten Meereisflächen im Rahmen des Klimawandels verändern werden. „Genauso wie eine Wettervorhersage für die nächsten drei Tage nicht dafür geschaffen wurde zu sagen, wie das Klima in Deutschland in 20 Jahren sein wird“, vergleicht Rabenstein.

Die Input-Daten, auf die das EisKlass2-Projekt sowie FAST-CAST 1 zugreifen, sind frei verfügbar und kommen vom Copernicus-Programm der EU. So entstehen sogenannte veredelte Daten, weil die Basisdaten von den jeweiligen Projektpartner*innen DLR, Universität Bremen, EOMAP und Drift+Noise ausgewertet und mit weiteren Informationen angereichert wurden. Da diese finalen Meereisdaten für die Nutzer*innen nur von kurzer Lebensdauer sind, werden sie bislang nicht länger als ein paar Tage gespeichert. Dies ist auch der Fall, weil sie einen enormen Speicherbedarf haben und somit weitere Kosten verursachen würden.

Zwei Bildschirme an Bord des Forschungsschiffes Polarstern. Auf einem Monitor ist ein Satellitenbild des Polarmeeres zu sehen, darin eine rot markierte Route durch die Eisschollen

Foto: Thomas Krumpen

An Bord des Forschungsschiffes Polarstern lieferte die IcySea-App Satellitenbilder des Polarmeeres, darin die rot markierte Route durch die driftenden Eisschollen.
Navigation in der Polarregion ist ein komplexer Prozess

Die Navigation durch die Arktis geht bei der strategischen Planung und der Wahl der Route los. Dazu müssen Eischarts der nationalen Eisdienste und Satellitendaten ausgewertet werden. Später, während das Schiff unterwegs ist, helfen aktuelle Satellitendaten, von Seegebieten, die am nächsten oder übernächsten Tag erreicht werden.

„Und dann gibt es noch die taktische Navigation. Dabei schaut man tatsächlich aus dem Fenster oder fliegt mit einer Drohne voraus, um zu sehen, wo eine Lücke im Eis ist und wo sich die Eiskante befindet“, führt Rabenstein aus. Zusätzlich liefert ein Eisradar an Bord vieler Schiffe eine Echtzeitaufnahme. Wie sich das Eis in den nächsten Stunden und Tagen verändern wird, kann anhand dieser Werkzeuge nicht abgelesen werden. Genau an diesem Punkt liefert die IcySea-App hilfreiche Informationen.

[Für die Nutzung der Anwendung muss übrigens ein Servicevertrag mit der Drift+Noise GmbH geschlossen werden. Die Kosten dafür richten sich nach der Anzahl und Größe der Schiffe sowie der Dauer des Vertrags. Das Ziel der Betreiber ist, dass sich IcySea in Zukunft allein durch die Gebühren der Nutzer*innen finanziert.]

Die Betreiber der IcySea-App denken bereits einen Schritt weiter und sind derzeit gemeinsam mit anderen Partner*innen am mFUND-Projekt FAST-CAST 2 beteiligt. „Dieses Projekt ist eine logische Erweiterung der Eisdriftvorhersage. Hier geht es darum, einen Routenempfehlungsalgorithmus zu entwickeln“, erklärt Rabenstein. Seine Vision ist, dass die IcySea-App zu einer Art Google Maps der Polarregion wird. Er will den App- Nutzer*innen eine Eisroutenempfehlung anbieten. „Man könnte dann angeben, ob es die treibstoffsparendste Route sein soll oder eine, die am meisten Eiskontakt vermeidet. Schließlich bedeutet jeder Eiskontakt mehr Abrieb oder gar Beulen am Rumpf. Das verursacht wiederum höhere Kosten“, sagt Rabenstein.

Collage aus einem Screenshot eines Satellitenbildes plus rot markierte Route durch die Eisschollen und einem aus der Luft aufgenommenen Foto eines Schiffes in diesen Abschnitt des Polarmeeres

Screenshot und Foto: Drift+Noise

Zusätzlich zu den Satellitenbildern und den errechneten Prognosen nutzen die Schiffscrews mitunter auch von Drohnen aufgenommene Fotos zur Navigation durchs Polarmeer.
Nur im Verbund mit Partner*innen ist die Umsetzung möglich

Solche Routenberechnungen sind jedoch sehr komplex. Dazu braucht es umfangreiche Daten und einen Algorithmus, um diese auszuwerten. Deswegen arbeitet Drift+Noise mit dem DLR, der Universität Bremen sowie EOMAP zusammen. Das DLR forscht derzeit im mFUND-Projekt EisKlass2 an der automatischen Klassifizierung von Eisschollen anhand von Satellitenaufnahmen. Das Start-up EOMAP geht einen ähnlichen Weg, um die Wassertiefe in der Polarregion zu bestimmen. Die Universität Bremen hilft bei der Entwicklung des Eisrouten-Algorithmus. „Ziel ist es, im Jahr 2024 auf dem Forschungsschiff Polarstern mitzufahren und mit der Routenoptimierung à la Google Maps spielen zu können. Dann könnten wir der Crew demonstrieren, wie die Routenempfehlung funktioniert“, blickt Lasse Rabenstein in die Zukunft.

Die nahe Zukunft der Nordostpassage als Handelsweg ist aufgrund der angespannten politischen Situation mit Russland ungewiss. Das Potenzial ist aber vorhanden. Wissenschaftliche Prognosen besagen, dass die Route im Jahr 2040 bis zu neun Monate im Jahr befahrbar sein wird.

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