Vom Miet-Scooter in die U-Bahn und von dort ins Sharing-Auto. Das ist längst möglich, erfordert oft jedoch mehrere Apps. Integrierte Mobilitätsdienste ändern diesen Zustand – sofern auch private Dienstleister ihre Daten preisgeben. Open-Data-Aktivist*innen fordern dafür gesetzliche Pflichten. ÖPNV-Akteur*innen hingegen setzen auf Anreize, die öffentliche Verkehrsträger als neutrale Mobility-as-a-Service-Plattformen bieten können.
Das Akronym MaaS steht für „Mobility-as-a-service“ (auf Deutsch: Mobilität als Dienstleistung) und bezeichnet Apps oder browserbasierte Plattformen, die möglichst alle verfügbaren Mobilitätsdienste bündeln, wie öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), Car- und Ridesharing, Bike- und Scootersharing und andere. Nutzer*innen können mit MaaS-Apps eine Fahrt von A nach B planen, dabei den eigenen Präferenzen entsprechend verschiedene Verkehrsmittel kombinieren, ein einziges Ticket für die gesamte Route kaufen und dieses innerhalb derselben Anwendung auch direkt bezahlen.
Unternehmen und Politik versprechen sich viel von MaaS: Die massenhafte Nutzung solcher Angebote verheißt Wirtschaftswachstum, wie das Beratungsunternehmen KPMG in seinem Bericht „Mobility 2030“ prophezeit. Idealerweise führt eine zunehmende Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln und Leihfahrzeugen dazu, dass weniger Autos auf den Straßen fahren und damit weniger CO2-Emissionen ausstoßen. Das wäre ein zählbarer Beitrag zur Verkehrswende. Im besten Fall werden auch Räume erschlossen, in die der ÖPNV noch nicht – oder nicht mehr – hineinreicht. Diese und weitere Hoffnungen knüpfen viele Verkehrsexpert*innen an MaaS.
Das Gros der weltweit existierenden MaaS-Angebote findet sich laut einer Untersuchung der University of Sydney in Europa. Internationaler Vorreiter ist das finnische Unternehmen MaaS Global mit seiner App Whim, die seit November 2017 – und davor schon rund ein Jahr im Testbetrieb – in der Hauptstadt Helsinki verfügbar ist.
Nach Unternehmensangaben nutzten Ende 2018 rund 70.000 Menschen (knapp elf Prozent der Bevölkerung Helsinkis) die App. Inzwischen können auch Menschen in den West Midlands (Vereinigtes Königreich), Antwerpen (Belgien), Stockholm (Schweden) und Wien (Österreich) die Whim-App nutzen, der Launch in Japan und den USA ist in Planung. Andere erfolgreiche MaaS-Anbieter*innen gibt es in Schweden, den Niederlanden und der Schweiz.
Als ausgereiftester Service dieser Art in Deutschland gilt derzeit Jelbi von den Berliner Verkehrsbetrieben. Auch in anderen deutschen Großstädten tüfteln Verkehrsunternehmen und Dienstleistungsfirmen an Mobilitätsplattformen und MaaS-Apps, beispielsweise in München und Hamburg. Ein umfassendes, alle Städte, Gemeinden und Regionen Deutschlands abdeckendes Angebot – wie etwa in Österreich – gibt es allerdings noch nicht.
Ein unabhängiges Expert*innengremium, die Arbeitsgruppe 3 der Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität (NPM), stellte dazu 2020 in einem Bericht im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums fest: „In Deutschland gibt es verschiedene Mobilitätsanbieter*innen, entsprechende Apps, teilweise auch Verknüpfungen, vorrangig aber Insellösungen.“ An anderer Stelle ist in dem Bericht von einem „Flickenteppich“ die Rede.
Die perfekte MaaS-Anwendung ist eine eierlegende Wollmilchsau: Sie muss sehr viele Funktionen und Dienste vereinen – idealerweise über Stadtgrenzen und zwingend über Unternehmensgrenzen hinweg. Sehr viele Akteur*innen müssen dabei zusammenarbeiten und Informationen austauschen.
„Als größte Hindernisse gelten […] die wirtschaftlichen beziehungsweise wettbewerblichen Interessen der Beteiligten, für die es unter Umständen wirtschaftlich betrachtet sinnvoller erscheint, den Zugang zu ihren Daten zu beschränken“, bemerkten die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages 2020 in einem Sachstandsbericht zur Regulierung von MaaS in ausgewählten europäischen Ländern. Das gilt auch für Deutschland: Viele Unternehmen wollen ihren Datenschatz nicht teilen.
Stefan Kaufmann beschäftigt sich seit Jahren mit der Zukunft der Mobilität und ist dabei zum Open-Data-Aktivisten geworden. Er hält die Debatte, wem Daten gehören, für schädlich und rechtlich nicht begründbar. „Ein Faktum – etwa, dass an einem bestimmten Ort gerade ein Carsharing-Auto steht – ist nicht urheberrechtlich geschützt“, sagt Kaufmann, der bei der Stadtverwaltung Ulm in der Geschäftsstelle Digitale Agenda arbeitet. „Ich verstehe die Befindlichkeiten der Akteure, gerade bei kleineren Unternehmen und Mittelständlern. Aber mit Geschäftsgeheimnissen vernageln wir uns die Zukunft.“
Wer etwa keine Auskunft darüber gibt, wo welche Fahrzeuge seiner Flotte stehen, welche davon verfügbar sind, was die Fahrt kosten soll und wie voll Tank oder Akku sind – alles automatisiert und in Echtzeit –, dessen Angebot können andere Dienstleister schlichtweg nicht in eine MaaS-Plattform integrieren. Dies gilt mit Haltestellen und Bahnhöfen, Routen, Fahrplänen und Live-Standorten ebenso für den öffentlichen Personenverkehr.
Vollständig ist das MaaS-Erlebnis zudem erst dann, wenn die Anbieter*innen ihre Buchungsschnittstellen freigeben, sodass Nutzer*innen ihre Tickets direkt auf der MaaS-Plattform kaufen können und nicht mehr zu den assoziierten Anbieter*innen umgeleitet werden müssen. Doch genau das verschreckt die meisten privaten Anbieter*innen.
Ein weiteres Problem: Es gibt viele Formate für Mobilitätsdaten – international anerkannt sind beispielsweise GTFS, GBFS, NeTEx, SIRI und Datex II –, doch nicht alle Anbieter*innen benutzen dieselben. Viele setzen auf Insellösungen, die nicht mit anderen Systemen kompatibel sind. Dadurch wird der Informationsaustausch zusätzlich erschwert, da es immer eine „Übersetzung“ zwischen den Systemen braucht.
Die Bemühungen beim Aufbau von MaaS scheitern also in der Regel an der mangelnden Offenheit der Anbieter*innen und an fehlenden Standards für den Austausch ihrer Daten.
Da Mobilität nach einhelliger Meinung zur Daseinsvorsorge zählt, drängt sich die Frage auf, ob Bund, Länder und Kommunen hier nicht intervenieren oder gar ein eigenes MaaS-Angebot bereitstellen müssten.
Ja und nein, sagt Open-Data-Aktivist Kaufmann: „Wichtiger als der Aufbau von Plattformen aus öffentlicher Hand ist, dass man dort ein Verständnis von der Materie hat. Man muss als Stadt oder Kommune nicht alles selbst bauen – man muss aber einen groben Plan haben, wie es hinterher aussehen soll.“
Die Städte sollten allerdings für gleiche Rahmenbedingungen sorgen, sodass Drittplattformen in den Wettbewerb um das beste MaaS-Produkt treten können.
Wie das gehen könnte, hat Kaufmann 2019 auf der Digitalkonferenz re:publica erklärt: Die Stadt Ulm nutze das Vergaberecht als Hebel: Wer eine Lizenz zum Anbieten eigener Mobilitätsdienstleistungen möchte, muss seine Daten unter der Creative-Commons-Lizenz CC0 (gemeinfrei) zur Verfügung stellen. In diesem Sinne regulatorisch und technisch wegweisend ist die Mobilitätsdaten-Spezifikation Mobility Data Specification (MDS), die regelt, welche Daten Mobilitätsdienstleister wie bereitstellen müssen – und im Übrigen auch, wie die Stadt im Gegenzug maschinenlesbare Daten und Regeln bereitstellt.
Diese MDS wurde zwar in Los Angeles entwickelt, doch inzwischen nutzen diese Vorschriften auch Dutzende Städte und Kommunen außerhalb der USA – auch Ulm. Sie könnte auch von anderen deutschen Städten einfach übernommen werden, es stehen sogar Open-Source-Lösungen für ihre Anwendung zur Verfügung. Doch dafür fehle es in vielen Ämtern und Behörden nach Kaufmanns Einschätzung an Wissen und IT-Kompetenz.
Mit seinem Ruf nach offenen Daten für MaaS ist Kaufmann jedoch bei Weitem nicht allein. Auch die bereits erwähnte Arbeitsgruppe 3 der Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität (NPM) empfiehlt, „eine diskriminierungsfreie Partizipation aller Transportdienstleister am Plattformdienst“ zu ermöglichen und möglichst zügig Grundsätze unter anderem für Datenaustausch und Interoperabilität zu definieren.
Marion Jungbluth, Leiterin des Teams Mobilität und Reisen beim Verbraucherzentrale Bundesverband, sitzt in der NPM-Arbeitsgruppe. Sie sagt: „Definitiv braucht es keine ‚Deutschland-Mobilitätsapp‘. Stattdessen brauchen wir eine verkehrsträgerübergreifende Verständigung über Schnittstellen, Standards und Datenqualität. Da muss der Bund Treiber sein, denn freiwillig kommen die Unternehmen nicht zusammen.“
Mit dem Projekt Datenraum Mobilität, das den Aufbau einer sicheren und vertrauenswürdigen Infrastruktur zum Datenteilen anstrebt, zielt das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) bereits in diese Richtung. „Der Datenraum Mobilität kann zu einem Leuchtturm werden“, sagt Jungbluth. Die Frage, ob alle beteiligten Akteur*innen am Ende mitmachen, bleibt jedoch.
„Deshalb ist es wichtig, dass die Daten, die benötigt werden, um das Gemeinwohl voranzubringen, verpflichtend geteilt werden müssen“, sagt die Verbraucherschützerin. Genau wie der Ulmer Experte Stefan Kaufmann fordert sie, dass öffentliche Ausschreibungen Vernetzungsanforderungen enthalten müssten.
In letzter Konsequenz könnte der Bund die Zusammenarbeit mit einem Open-Data-Gesetz erzwingen. Ein solches Gesetz legte in Finnland den Grundstein für den Erfolg von Whim.
Für Jens Brückner ist das aber nicht der Königsweg: „Im Grundsatz ist der finnische Weg richtig“, sagt er: „Die Partner müssen sich öffnen –so wie wir das tun. Entweder man macht das wie wir auf einer proaktiven Basis oder man wird perspektivisch eventuell dazu gezwungen werden.“
Mit „wir“ meint Brückner seinen Arbeitgeber, die Hamburger Hochbahn, Betreiberin des öffentlichen Personennahverkehrs in Hamburg. Zum von ihr betriebenen Hamburger Verkehrsverbund (HVV) gehören U-Bahnen (teils als Hochbahn) und Busse. Als Projektleiter ist er dort für die MaaS-App hvv switch zuständig, die den Hamburger ÖPNV mit allen anderen relevanten Verkehrsmitteln verknüpfen soll.
„Wir hatten 2013 schon das Ziel, solche integrierten Services zu schaffen, sind aber an ganz lapidaren Dingen wie einer gemeinsamen Registrierung schon gescheitert, geschweige denn ein Fahrzeug mit einer fremden App öffnen zu können“, erinnert sich Brückner. Auch er kennt also den Kampf um offene Daten und Schnittstellen.
Den Bedenken vieler Anbieter*innen, Daten aus der Hand geben zu müssen und damit vermeintlich den Kontakt zu den Kund*innen zu verlieren, widerspricht er: „Unsere Kunden sind vertraglich gesehen auch die Kunden des jeweiligen Anbieters. Die Anbieter werden nicht zu reinen Operatoren gemacht.“ Die Mobilitätsdienstleister, die mit hvv switch kooperieren, haben also auch Zugriff auf Daten der HVV-Kund*innen und können damit ihr Produkt auswerten und verbessern.
Dass inzwischen viele Anbieter*innen bei ihm anklopfen und in die Plattform integriert werden wollen, liegt laut Brückner außerdem daran, dass die Hochbahn als öffentliches Verkehrsunternehmen und somit neutraler Plattformbetreiber wahrgenommen werde, das auch nicht direkt im Wettbewerb mit den Anbieter*innen stünde.
Im Gegenteil: Mit den sogenannten hvv switch Punkten stellt der HVV an vielen seiner Bahnhöfe und Haltestellen Flächen bereit, auf denen die Drittanbieter*innen ihre Fahrzeuge abstellen dürfen. Das soll ÖPNV-Nutzer*innen das Umsteigen erleichtern und generell multimodales Verhalten fördern. Außerdem teilt die Hochbahn nach eigenen Angaben ihr Wissen mit Partnerunternehmen und hat selbst ihre Schnittstellen geöffnet, sodass auch andere Anbieter*innen HVV-Produkte verkaufen können.
Der Arbeit von Brückner und seinen Kolleg*innen kommt eine besondere Bedeutung zu, da sie im „Reallabor Hamburg“ stattfindet. Hier erprobt die Hamburger Hochbahn, auf Betreiben der NPM, verschiedene digitale Mobilitätslösungen in der Praxis. Die Erkenntnisse aus Hamburg sollen später als Blaupause für andere Orte in Deutschland dienen.
Interessant wird sein, ob sich andere Verkehrsunternehmen künftig ans Programmieren und Betreiben eigener Plattformen wagen. Derzeit kaufen viele diese Dienstleistung ein. So steht etwa hinter der BVG-App Jelbi das litauische Unternehmen Trafi. Anders verhält es sich bei hvv switch: „Von der Idee bis zur Umsetzung liegt die Kompetenz bei uns“, sagt Projektleiter Brückner. Nur punktuell würde sich der HVV Verstärkung bei externen Dienstleistern holen.
Das heißt, dass die Software und die Daten dem Hochbahnunternehmen und damit der Stadt gehören. Jens Brückner: „Aus unserer Sicht ist die Plattform Teil der digitalen Infrastruktur der Freien und Hansestadt Hamburg und muss in unserem Eigentum stehen. Nur so haben wir die entsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten und können unserer Verpflichtung bei der Daseinsvorsorge nachkommen.“
Derlei Gedanken sind den potenziellen Nutzer*innen von MaaS-Angeboten zunächst wahrscheinlich egal. Worauf sie tatsächlich Wert legen, zeigt eine Studie der Hochschule RheinMain, Wiesbaden: Wenig überraschend muss eine MaaS-Plattform nützlich und einfach zu handhaben sein. Darüber hinaus spielen insbesondere emotionale Faktoren eine Rolle, so etwa das Gefühl von Autonomie, eigener Kompetenz und der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Nachhaltigkeitsbewusstsein und Datenschutzbedenken sind hingegen erst einmal nachrangig oder werden ausgeblendet. Eine Studie der Tampere University, Finnland kommt außerdem zu dem Ergebnis, dass Menschen sich von MaaS erhoffen, rund ein Drittel ihrer Mobilitätskosten zu sparen.
„Erst wenn ich wirklich einen zuverlässigen und umfassenden Überblick über sämtliche Verkehrsmittel für meine Wege bekomme, meine Auswahl dann buchen und mit meinem hinterlegten Zahlungsmittel bezahlen kann, werden MaaS-Plattformen zum Schlüssel für Mobilität“, ist sich Marion Jungbluth vom Verbraucherzentrale Bundesverband sicher.
Die Plattform, der diese Leistung zuzutrauen wäre, gibt es übrigens schon – und sie scheint durchaus MaaS-Ambitionen zu hegen: Google Maps führt in den USA gerade die Funktion ein, Parkscheine und ÖPNV-Tickets in der App zu kaufen und zu bezahlen. Spätestens wenn diese Funktion auch deutschen Nutzer*innen zur Verfügung steht, könnte hierzulande neuer Schwung in die Mobilitätsbranche kommen.