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Besser durchkommen: Mehr Infos zur Infrastruktur und grüne Wellen für Radfahrende

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Andrea Reidl

Besser durchkommen: Mehr Infos zur Infrastruktur und grüne Wellen für Radfahrende

Eine passgenaue Route und wenige Stopps sind für Radfahrer*innen in der Stadt entscheidend, um schnell voranzukommen. Doch noch immer mangelt es an Daten für die perfekte Navigation und auch wenn die Route stimmt, stören rote Ampeln häufig den Flow. Neue Apps sollen Abhilfe schaffen.

Das Fahrrad ist im Stadtverkehr auf Strecken von bis zu fünf Kilometern unschlagbar schnell, allerdings nur unter optimalen Bedingungen. In der Praxis werden Radler*innen von roten Ampeln häufig ausgebremst und wer mit dem Lastenrad unterwegs ist, scheitert an hohen Bordsteinen, Umlaufgittern oder zu engen Kurven. Um diese Probleme zu entschärfen, müssen nicht immer bauliche Veränderungen her. Auch smarte Software-Lösungen können helfen. So wie die SiBike-App, die eine dynamische grüne Welle für Fahrradfahrer*innen erzeugt, und die App Cargorocket, die seit Juni im Beta-Test hindernisfreie Routen speziell für Lastenräder plant.

Lastenräder scheitern an Umlaufgittern und engen Kurven

Eine Routing-App für Lastenräder? Für viele mag das nach einem Gadget für Mobility Geeks klingen, doch laut Bundesverkehrsministerium (BMVI) können langfristig 30 Prozent der innenstädtischen Warenlieferungen per Lastenrad zugestellt werden. Dafür ist eine darauf zugeschnittene Tourenplanungssoftware sinnvoll, da die Radinfrastruktur auf solche Räder noch nicht ausgelegt ist. Mit Erdbeeren auf der Ladefläche müssen die Zusteller*innen aufgebrochene Radwege oder Kopfsteinpflaster meiden. Sperrige Güter zwingen sie zu Umwegen, wenn sie an Umlaufgittern oder engen Kurven scheitern.

Umlaufgitter oder auch „Drängelgitter“ sind für Lastenräder meist unüberwindliche Hindernisse, wenn sie nicht – wie hier in Berlin-Nikolassee – umfahren werden können. Foto: Henry Steinhau, CC-BY
Umlaufgitter oder auch „Drängelgitter“ sind für Lastenräder meist unüberwindliche Hindernisse, wenn sie nicht – wie hier in Berlin-Nikolassee – umfahren werden können. Foto: Henry Steinhau, CC-BY

„Selbst in geöffneten Einbahnstraßen kann es für Lastenräder bei Gegenverkehr eng werden“, sagt Steffen Bengel. Am Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement der Universität Stuttgart entwickelt der Geograf eine integrierte Softwareanwendung für intelligentes Routen- und Auftragsmanagement für Lastenradverkehre. Das Projekt mit dem Namen SmartRadL – gefördert durch den mFUND des Bundesverkehrsministeriums – läuft bis 2022, Projektpartner*innen sind die FLS GmbH und die veloCARRIER GmbH.

„Die Zustellung per Sprinter oder Lkw unterscheidet sich massiv von der Zustellung per Lastenrad“, erklärt Bengel. Die einzelnen Schritte wie Disposition, Navigation und Annahme von Retouren müssten für den Lastenradtransport viel detaillierter geplant werden als bei größeren Fahrzeugen. Sperrgut beispielsweise werde für die Zustellung per Lastenrad derzeit noch häufig umgepackt. Mithilfe der Tourenplanungssoftware könnte es langfristig beim Verladen direkt in entsprechenden Boxen oder lastenradtauglichen Wechselcontainern verstaut werden.

„Cargobike-Index“ zeigt die Lastenradtauglichkeit deutscher Straßen

Aus vielen Gesprächen mit den Fahrer*innen weiß Bengel, wie die perfekte Routing-App aussehen sollte. „Aber die dafür notwendigen Infrastrukturdaten von Radwegebreiten bis zu Bordsteinhöhen oder Live-Informationen zu Behinderungen wie Außenveranstaltungen, Baustellen oder Demonstrationen sind entweder gar nicht vorhanden oder nicht frei zugänglich“, bemängelt er.

Als Bengel im November 2020 bei einem Hackathon des Ministeriums für Verkehr Baden-Württemberg (VM BW) diese Datenlücke beschrieb, wurden Alexandra Kapp, David Prenninger und Henri Chilla hellhörig: Sie wollten eine Routing-App für Lastenräder entwickeln. Das VM BW fand die Idee gut und unterstützte das Projekt mit 25.000 Euro.

Die drei gründeten das Start-up „Cargorocket“ und veröffentlichten im Mai 2021 den bundesweit ersten „Cargobike-Index“, der inzwischen die Lastenradtauglichkeit vieler Straßen in ganz Deutschland zeigt. Ein paar Wochen später folgte ihre App. „Beides sind keine fertigen Produkte“, betont Entwickler David Prenninger. Im Gegenteil: Das Trio habe damit einen Diskurs eröffnen und zeigen wollen, welche Standards Lastenräder brauchen, um als Autoersatz in der Stadt unterwegs sein zu können, und welche Daten für ein Routing notwendig sind.

CargoBikeIndex Stuttgart. Die Farben stehen für die infrastrukturellen Bedingungen für Lastenräder, von rot (schlecht) bis grün (gut). Screenshot: Emmett
CargoBikeIndex Stuttgart. Die Farben stehen für die infrastrukturellen Bedingungen für Lastenräder, von rot (schlecht) bis grün (gut). Screenshot: Emmett
Mit dem Klick auf eine Straße zeigt das Infofenster den Indexwert und  …
Mit dem Klick auf eine Straße zeigt das Infofenster den Indexwert und …
… nähere Angaben zu Straßenqualität und Wegeart. Screenshots: Emmett
… nähere Angaben zu Straßenqualität und Wegeart. Screenshots: Emmett
Mapathon, um fehlende Infrastrukturdaten zu ergänzen

Das Sammeln von Infrastrukturdaten ist in Deutschland Schwerstarbeit. „Die Daten, die beim Bund, den Ländern und Kommunen existieren, sind kaum zugänglich“, sagt Alexandra Kapp, die im Team für die Geodaten zuständig ist. Allein um die Höhen von Baden-Württembergs Bordsteinen zu erfahren, hätten sie in jeder der mehr als 1000 Kommunen nachfragen müssen. Um sich Zeit und mögliche Absagen zu ersparen, nutzten sie die freie Weltkarte OpenStreetMap.

„Viele Radwege, Bordsteine, Drängel- beziehungsweise Umlaufgitter oder Poller sind dort bereits gemappt“, sagt Kapp. Es fehlten jedoch die Informationen zu den Radwegebreiten, wie viel Platz rechts und links von Pollern verbleibt oder ob die Oberflächen der Radwege glatt sind oder Holperpisten ähneln. Um die fehlenden Daten zu ergänzen, startete das Trio im April 2021 einen Mapathon, ein koordiniertes Mapping-Event, bei dem Freiwillige Informationen über die Wegbeschaffenheit beisteuern.

Was technisch klingt, ist Handarbeit. Die Mapper*innen messen vor Ort per Zollstock die Breite der Wege oder die Höhe der Bordsteine und ergänzen sie in OpenStreetMap. „Für die Barrieren gibt es eigene Tags wie ‚bollard‘ (Poller) oder ‚cycle_barrier‘ (Umlaufgitter)“, erklärt Kapp. Neben der Art der Barriere kann zudem die maximale Breite über „width“ oder „maxwidth:physical“ sehr genau angegeben werden. Das System der OpenStreetMap sei selbsterklärend und funktioniere gut.

Woran es hake, sei auch in diesem Fall der Daten-Nachschub. In Ulm wurde seit dem Mapathon beispielsweise viel gemappt. „Die Tag-Vollständigkeit ist dort von 20 auf 32 Prozent gestiegen“, betont Kapp. Im Umkehrschluss bedeutet das: 68 Prozent der Radwege in Ulm bleiben ungemappt.

DIe Cargobike-Index-Karte von Ulm zeigt, welche Straßen und Orte beim Mapathon erfasst wurden, aber auch, wo noch welche Daten fehlen. Screenshot: Emmett
DIe Cargobike-Index-Karte von Ulm zeigt, welche Straßen und Orte beim Mapathon erfasst wurden, aber auch, wo noch welche Daten fehlen. Screenshot: Emmett
Via Programmierschnittstelle können Dritte die Daten für ihre Routing-Apps nutzen

Auch die Mehrzahl der sichtbaren Straßen des Cargobikeindex basieren weiterhin auf Datenmaterial von OpenStreetMap. Sämtliche Straßen von der Bundesstraße über den Fußweg bis zum Feldweg sind dort erfasst. Die App Cargorocket übersetzt mit ihrem Index jede Straßenkategorie in eine Empfehlung für Lastenräder. Sie ermittelt anhand dieser Empfehlungen und der zusätzlich eingegebenen, von Mapper*innen beigesteuerten Daten die beste Strecke durch die Stadt.

Das Team von Cargorocket, von links nach rechts: Henri Chilla, Alexandra Kapp, David Prenninger. Foto: CargoRocket
Das Team von Cargorocket, von links nach rechts: Henri Chilla, Alexandra Kapp, David Prenninger. Foto: CargoRocket

Das Trio von Cargorocket sieht sein Projekt als Impuls. Mit der App und dem Index wollen sie nach eigener Aussage die Datengrundlage verbessern und anderen den Zugang zu den Daten – per App oder durch die Bereitstellung einer Programmierschnittstelle – erleichtern, so dass andere Apps sie für ihr eigenes Routing nutzen. „Wir wollen andere motivieren, das Datenangebot für Cargobike-Nutzer*innen weiter zu verbessern“, sagt Prenninger.

Mit Bilderkennungsalgorithmus die Oberfläche von Straßen bewerten

Das ist ihnen zum Teil bereits gelungen. Ein Team von Correlaid, einem ehrenamtlich arbeitenden Netzwerk von Data-Science-Enthusiast*innen, will sie unterstützen und versucht nun einen Bilderkennungsalgorithmus zu entwickeln, der anhand von Fotos die Oberfläche von Straßen bewerten kann. Der Algorithmus ist noch nicht fertig, aber den Prozess kann man auf Github verfolgen.

„Im besten Fall funktioniert der Algorithmus weltweit“, hofft Henri Chilla, der OpenStreetMap-Experte bei Cargorocket. Wenn es klappt, könnte von unzähligen Straßen weltweit problemlos die Oberfläche auf ihre Lastenradtauglichkeit geprüft werden. Mit ihren Software-Lösungen kann Cargorocket das Routing für Lastenräder langfristig verbessern und die Fahrzeit im Alltagsverkehr deutlich verkürzen.

Statische und dynamische grüne Wellen für Radfahrer*innen

Allerdings kann der Zeitgewinn auf Strecken mit vielen Ampeln schnell verlorengehen, da weiterhin gilt: Der motorisierte Autoverkehr hat Vorrang vor allen anderen Verkehrsteilnehmer*innen. Das gehe auch aus der gesetzlichen Straßenverkehrsordnung hervor, schlussfolgern unter anderen die Autoren eines Gutachtens für ein modernes Verkehrsrecht (PDF), das sie 2019 für den Allgemeinen Deutschen Fahrradclub erstellten. Nicht zuletzt deshalb winken Verkehrsplaner*innen bei der Forderung nach einer sogenannten grünen Welle für Radfahrer*innen immer wieder ab.

Ein Türöffner könnten Apps sein, die Radfahrer*innen auf Wunsch eine dynamische grüne Welle ermöglichen. Anders als statische grüne Wellen schalten die Ampeln nur auf Anfrage der App auf Grün. In den Niederlanden sind beide Systeme längst Alltag; in Deutschland dagegen sind sowohl statische als auch dynamische grüne Wellen immer noch ein Nischenthema.

Verkürzte Fahrzeiten für Radfahrer*innen – aber auch für Autos

Dabei war der erste Pilotversuch mit einer dynamischen grünen Welle in Deutschland vielversprechend. In Marburg testete Siemens gemeinsam mit der Technischen Universität (TU) München 2016 die Leistungsfähigkeit am Beispiel von SiBike auf einer 700 Meter langen Teststrecke mit sieben Kreuzungen. Das Ergebnis (nachzulesen in dieser Evaluierung, PDF): Die Zahl der Radler*innen-Stopps sank um bis zu 44 Prozent, die Fahrzeit reduzierte sich fast um ein Drittel.

Selbst der motorisierte Verkehr profitierte von SiBike. Während der Rushhour sank auch die durchschnittliche Fahrzeit der Autos in die Hauptverkehrsrichtung um rund 28 Prozent. Demgegenüber erhöhte sich die Fahrzeit der Autos, wenn die Radfahrer*innen die dynamische grüne Welle während der Nebenverkehrszeit und in Gegenrichtung anforderten.

Georgios Grigoropoulos, Verkehrsforscher an der TU München, wundert das nicht. „Bei wenigem Verkehr sind die Autos dort deutlich schneller unterwegs und ein Stopp wirkt sich stärker aus“, erklärt er. Das heißt: Wenn von fünf Autos, die mit Tempo 50 auf eine grüne Ampel zufahren, eines nicht durchkommt, ist der individuelle Zeitverlust für diesen einen Wagen rein rechnerisch zwar groß. Der Gewinn für den gesamten Verkehrsfluss ist aber größer. Das Urteil der Verkehrsexpert*innen ist deutlich: Die SiBike-App habe die Verkehrssituation für den motorisierten Individualverkehr nicht signifikant verschlechtert.

Der Aufwand, die Ampelsteuerungen zu programmieren, ist relativ gering

In der Praxis sieht die grüne Welle so aus: Sobald ein*e Radfahrer*in mit aktivierter App auf die Ampel zufährt und eine virtuelle Auslöselinie passiert, erhält der Verkehrsrechner von der App ein Signal und sendet einen Priorisierungswunsch an die Ampel. Im besten Fall bekommt der/die Radfahrer*in sofort Grün, ansonsten wird die Wartezeit signifikant verkürzt. Die Fahrradampeln schalten bis zu sechs Sekunden früher auf Grün, um dem Radverkehr in der Kreuzung einen Vorsprung vor abbiegenden Fahrzeugen zu geben.

Mit dem Überfahren der „Trigger line“ lösen Radfahrende die Grünschaltung der Ampel zu ihren Gunsten aus. Abbildung:  SiBike/Siemens
Mit dem Überfahren der „Trigger line“ lösen Radfahrende die Grünschaltung der Ampel zu ihren Gunsten aus. Abbildung: SiBike/Siemens

Je nach Verkehrssituation kann SiBike auch für eine zusätzliche Grünphase für den Radverkehr sorgen. „Für den Verkehrsingenieur, der die Lichtsignalanlage programmiert, ist der Aufwand relativ gering“, weiß Michael Hagenbring von der Marburger Straßenverkehrsbehörde. Er muss nur das Software-Modul aktivieren, das Siemens bereitstellt, die zusätzlichen Sekunden eingeben und die virtuellen Auslöselinien vor der Ampel programmieren.

„Will man das Auto bei 50 km/h priorisieren – oder das Fahrrad bei 20 km/h?“

Inzwischen sind 17 Kreuzungen in Marburg für SiBike freigeschaltet und mit jedem fälligen Ampeltausch werden es mehr, sofern dort Radverkehrsanlagen existieren oder markiert werden dürfen. Im Ausland wird SiBike seit 2019 in Fremont in Kalifornien genutzt. Das schwäbische Reutlingen hat die App-Lösung im April nun als zweite deutsche Stadt eingeführt. Doch die weitere Verbreitung kommt noch nicht so recht voran.

„Das liegt vielleicht daran, dass die App und deren einfache Umsetzung noch nicht hinreichend bekannt ist“, vermutet Produktmanagerin Olivia Köhler von Siemens Mobility. Stephanie Krone, verkehrspolitische Sprecherin vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub ADFC sieht dafür vor allem politische Gründe. „Bei einer grünen Welle muss man sich entscheiden, wen man priorisieren will: das Auto bei 50 km/h oder das Fahrrad bei etwa 20 km/h.“ Dass das Fahrrad an Hauptachsen Vorrang erhalten könnte, sei für viele Planer*innen nicht denkbar. „Im Gegenteil. Die Standardhaltung ist immer noch: Auto first. Alles andere muss sich unterordnen“, sagt sie.

Fazit

App-Lösungen wie SiBike oder Cargorocket helfen dem Fahrrad, seine Vorteile auf der Kurzstrecke effektiv auszuspielen, ohne den Autoverkehr spürbar einzuschränken. Man kann sich leicht ausmalen, dass mithilfe von Software-Lösungen noch deutlich mehr ginge, wären (mehr) Infrastrukturdaten verfügbar und würde das Fahrrad als gleichberechtigtes Verkehrsmittel angesehen.

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