Sie kommen ständig zum Stehen: vor Stufen, defekten Aufzügen, wenn Rampen, Leitsysteme oder Orientierungshilfen fehlen. Wege dauern für Menschen mit Behinderung länger, müssen geplant und können allzu oft nicht allein bewältigt werden. Drei Menschen erzählen, mit welchen digitalen Hilfsmitteln sie dennoch gut vorankommen – und wo sie weiterhin Stillstand erleben. Im dritten Teil: Wilhelmine Lenz, die im Rollstuhl sitzt.
„Unabhängigkeit“ klingt nach Geschichtsunterricht oder Nachrichten aus fernen Ländern. Für viele Menschen ist es jedoch ein alltägliches Thema. Zum Beispiel dort, wo Gesetze und Bekenntnisse zur Barrierefreiheit versagen, sind Menschen mit Behinderung von anderen abhängig – auch in Deutschland. Sie müssen um Hilfe bitten, wenn sie nur wie alle anderen von A nach B wollen.
„Die Vertragsstaaten treffen wirksame Maßnahmen, um für Menschen mit Behinderungen persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit sicherzustellen“, heißt es in Artikel 20 der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (PDF), die in Deutschland seit 2009 gilt. Immerhin: Seitdem hat sich viel getan, auch dank der Digitalisierung.
Emmett hat drei Menschen aus Berlin gefragt, welche digitalen
Hilfsmittel sie nutzen, um ihre Alltagswege zu gestalten. Sie erklärten
auch, dass von Barrierefreiheit nur selten die Rede sein kann.
Drei Erfahrungsberichte
- Marcel Wolf nutzt Broken Lifts, um nicht von defekten Aufzügen aufgehalten zu werden
- Bedia Kunz nutzt Lazarillo, NotNav und die BVG Fahrinfo, um nicht ständig Menschen nach dem Weg fragen zu müssen
- Wilhelmine Lenz nutzt Wheelmap, um nicht vor Treppenstufen Halt machen zu müssen
„Wenn ich mit meinem Elektro-Rollstuhl zur Arbeit fahre, brauche ich ungefähr eine Viertelstunde. Ich bin mit sechs Stundenkilometern unterwegs, das ist so vorgegeben. (Anmerkung der Redaktion: Wer schneller sein möchte, muss eine separate Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung nachweisen und ein Versicherungskennzeichen am Rollstuhl anbringen.) Dabei überholen mich sogar rennende Kinder.
Bei längeren Strecken, bei Regen oder Glatteis fahre ich mit dem Auto. Das ist ein VW-Bus mit einem Kassettenlift. Da fahre ich rückwärts drauf, der hebt mich hoch. Drinnen schnalle ich den Rolli an und setze mich um in den Fahrersitz, das ist sicherer. Das Auto ist so umgebaut, dass ich alles mit den Händen bedienen kann.
Ich fahre sehr selten ÖPNV, außer ich bin außerhalb meines Bezirks unterwegs, möchte etwas trinken oder weiß vorher, dass die Parkplatzsuche schwierig wird – dann lasse ich das Auto auch stehen. Und Behindertenparkplätze sind ja leider oft zugeparkt. Manchmal stehen auch so Elektro-Scooter direkt vor meiner Rampe am Auto. Dann muss ich gesunde Menschen bitten, mein Auto so umzuparken, dass ich einsteigen kann. Das ist Mist.
Bei einem Behindertenparkplatz wäre es schön, wenn es ein Safe Space wäre. Und der Gehweg sollte frei sein. An den Rollern komme ich manchmal einfach nicht vorbei und ich habe neulich beobachtet, wie eine blinde Person fast über so einen Scooter gestolpert ist. Das ist Mist.“
Foto: Clara Immenhausen, Celina Löschau, Laura Volgger
Foto: Clara Immenhausen, Celina Löschau, Laura Volgger
„Zurück zum ÖPNV: Der ist also eher mein Plan B oder Plan C. Denn es passiert immer mal, dass man an einem Bahnsteig ankommt, an dem die Bahn nicht ebenerdig hält. Dann muss man eine Station weiterfahren. In der BVG-App (Anmerkung der Redaktion: Smartphone-App der Berliner Verkehrsbetriebe.) kann man inzwischen zwar einstellen, dass man Routen mit Barrierefreiheit braucht – man darf es nur nicht vergessen.
Grundsätzlich ist man aber einfach abhängig: Man muss sich vorne hinstellen und dem Personal sagen: ‘Hallo, hier bin ich.‘ Ich brauche immer Hilfe beim Ein- und Aussteigen. Ich kann nicht einfach einsteigen, ohne weiter drüber nachzudenken. Spontaneität ist für mich oft nicht möglich. Oder: Man kann spontan sein, aber man muss mit sehr wahrhaftigen Barrieren rechnen. Und abends fühle ich mich einfach unsicher im ÖPNV, weil ich mich schlechter wehren kann.“
Barrierefreiheit im ÖPNV – Ziel verfehlt
Das Ziel war klar: Bis zum 1. Januar 2022 sollte eine „vollständige Barrierefreiheit“ im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) erreicht werden, so steht es im Personenbeförderungsgesetz von 2013. Ausnahmen mussten begründet werden.
Noch immer sind viele ÖPNV-Netze gespickt mit Barrieren, die es mobilitäts- oder seheingeschränkten Menschen erschweren, sich gleichberechtigt fortzubewegen.
Im Koalitionsvertrag heißt es zu dem Thema: „Wir werden die Ausnahmemöglichkeiten des Personenbeförderungsgesetzes (ÖPNV) bis 2026 gänzlich abschaffen.“
„Wenn ich ein neues Restaurant oder eine neue Bar ausprobieren möchte, gucke ich in der Wheelmap, ob der Ort barrierefrei ist. Auf Google Maps darf man sich diesbezüglich nicht verlassen. Da ist es mir schon passiert, dass da halt doch ein, zwei Stufen waren oder eine von den Rampen, die so steil sind, dass ich nicht hochkomme.
Wenn es eine vernünftige Rampe gibt, dann ist das super. Aber das ist für mich auch eine Form der Barriere, wenn man sich überwinden und fragen muss. Immerhin: Früher musste man immer anrufen und fragen.“
Foto: Clara Immenhausen, Celina Löschau, Laura Volgger
Foto: Clara Immenhausen, Celina Löschau, Laura Volgger
„Der Vorteil bei der Wheelmap ist, dass man sich sicher sein kann, dass ein Ort barrierefrei ist, weil es mit Fotos belegt wird. Man kann sich so auch die Art der Barrierefreiheit angucken. Zum Beispiel können manche besser von links oder von rechts auf die Toilette, das kann man sich da angucken. Ist da Platz oder eine Wand? Oft wird da auch der Putzwagen abgestellt, weil neben dem Behindertenklo so schön viel Platz ist… In der Wheelmap wird die Barrierefreiheit auch in Abstufungen angegeben. Das finde ich gut. Es braucht ja auch nicht jeder ein Rollstuhlklo.
Wenn ich draußen unterwegs bin und aufs Klo muss, gucke ich auch in der App nach. Die Wheelmap ist da wirklich der Retter in der Not! Also wortwörtlich.
Foto: Clara Immenhausen, Celina Löschau, Laura Volgger
Foto: Clara Immenhausen, Celina Löschau, Laura Volgger
Als Rollstuhlfahrer*in ist es so: Man plant, wie viel man trinkt. Wenn man nicht weiß, wo die nächste Toilette ist, trinkt man nichts. Es soll eine hohe Dunkelziffer an Blasenerkrankungen geben bei Rollstuhlfahrer*innen, weil es nicht genügend rollstuhlgerechte Toiletten gibt. Mit der Wheelmap habe ich sogar mal ein rollstuhlgerechtes Dixi-Klo gefunden. Wusste gar nicht, dass es das gibt.“
Was ist inklusive Mobilität? Wie erreichen wir sie? Und welche Rolle können Daten bei Lösungsansätzen spielen? Über diese Fragen haben wir mit vier Expertinnen aus unserem Frauennetzwerk gesprochen.