Immer mehr Projekte wollen mit Hilfe offener Daten Barrieren beim Bus- und Bahnfahren abbauen. Wichtig für den Erfolg: Menschen mit Behinderung beteiligen sich als Expert:innen in eigener Sache.
Der Aufzug zum Bahnsteig ist kaputt. An der Bushaltestelle fehlt ein abgesenkter Bordstein. An der Straßenbahn-Station gibt es keine Durchsagen. Für Menschen im Rollstuhl oder für blinde Menschen kann das bedeuten, dass sie ohne fremde Hilfe nicht weiterkommen.
Das deutsche Personenbeförderungsgesetz (PBefG) schreibt eine „vollständige Barrierefreiheit für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs“ bis Anfang 2022 vor. Viele Mobilitätsexpert:innen und Verbände gehen jedoch davon aus, dass dieses Ziel nicht erreicht wird. So kritisiert beispielsweise die „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL)“, dass das Gesetz keine Strafe für jene ÖPNV-Anbieter vorsieht, die diese Frist reißen. In einer Stellungnahme zur aktuellen Fassung des PBefG, die seit Anfang August 2021 gilt, beschreibt die ISL, in welchen Punkten das Gesetz in punkto Barrierefreiheit verbessert werden müsste.
Auch der „Deutscher Bahnkunden-Verband“ bezweifelt, dass Kommunen und ÖPNV-Anbieter die Barrierefreiheitsziele gemäß PBefG erreichen.
Immerhin: Es gibt Fortschritte auf der digitalen Seite. Verbände, Unternehmen und Initiativen arbeiten an datenbasierten Anwendungen für mehr Barrierefreiheit im ÖPNV. Sie wollen Menschen mit Behinderung über Hindernisse beim Bus- und Bahnfahren informieren – und darüber, ob und wie sie trotzdem selbständig mobil sein können.
Damit die Anwendungen den Menschen einen wirklichen Nutzen bringen, benötigen die Entwickler:innen Daten – und diese sollten auch von Menschen aus der Zielgruppe kommen. Denn diese wissen selbst am besten, was sie brauchen, um sicher und bequem unterwegs zu sein.
Der Berliner Verein „Sozialheld*innen“ arbeitet seit mehr als 15 Jahren an Lösungen. Mit verschiedenen Projekten unterstützt er barrierefreie Mobilität. Das wohl bekannteste ist die Wheelmap, eine Karte für rollstuhlgerechte Orte – darunter Bahnhöfe, U-Bahnhöfe, Straßenbahn- und Bushaltestellen. Jede:r kann über eine App oder eine digitale Karte im Internet-Browser rollstuhlgerechte Orte eintragen.
Screenshot: Wheelmap
Grundlage der Wheelmap sind die Geodaten von OpenStreetMap – einer weltweiten Karte mit einer großen Community, die offene Daten unter einer freien Lizenz zur Verfügung stellt. Die Wheelmap-Akteur:innen initiieren jede Woche an vielen Orten in Deutschland Mapping-Aktionen: Freiwillige aus Initiativen oder Selbsthilfe-Organisationen bewegen sich durch ihr Stadtviertel und erfassen in der Wheelmap, ob Orte für Menschen im Rollstuhl erreichbar sind. Wie das Hinzufügen, Ändern oder Bewerten von Orten funktioniert, erklären die „Sozialheld*innen“ ausführlich in den FAQs.
Die „Sozialheld*innen“ sind auch Partner:innen im vom Bundesverkehrsministerium (BMVI) geförderten mFUND-Projekt OPENER next, geleitet von der Technischen Universität Chemnitz. Ziel des Projekts: Mithilfe einer App können Nutzer:innen Barrieren an Bus- und Bahnhaltestellen erfassen und den Datensatz Verkehrsverbünden und Entwickler:innen zur Verfügung stellen.
Eine solch umfangreiche Datensammlung kann nur mit Hilfe von Freiwilligen gelingen: Sie sollen die App in ihrem Alltag nach und nach mit Informationen über Barrieren im ÖPNV vor Ort füttern. Außerdem will das Projektteam gezielt Mapping-Aktionen nach dem Vorbild der Wheelmap-Community starten – unter dem Motto: „Trage dazu bei, dass der ÖPNV in deiner Region barrierefrei wird.“
Das Team um Projektleiter René Apitzsch von der TU Chemnitz will für seine groß angelegte Datenerfassungsaktion Menschen aus der ganzen Bevölkerung gewinnen. Dafür nimmt es unter anderem Kontakt zur OpenStreetMap-Community auf – über Foren und digitale Stammtische. Außerdem setzt das Team auf das Projekt-Netzwerk.
„An OPENER next sind neun Partner direkt beteiligt, zehn weitere sind als assoziierte Partner dabei, unter anderem Verkehrsverbünde und die Sozialheld*innen“, sagt Apitzsch. „Die Partner haben zugesagt, über ihre Kanäle für die Mapping-Aktionen und die Nutzung der Erfassungs-App zu werben.“ Um gezielt Menschen mit Behinderung zu erreichen, würden die Verkehrsverbünde ihre Kontakte zu Behindertenverbänden und Selbsthilfe-Organisationen nutzen, so Apitzsch. Die Technische Uni habe außerdem Verbindungen zu einem Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte in der Stadt, das unter anderem Fachinformatikerinnen ausbildet.
Wie sich Bürger:innen als Datensammler:innen und Citizen Scientists einbeziehen lassen, lesen Sie in Erfahrungsberichten aus drei mFUND-Projekten.
Außerdem können Sie hierzu eine Checkliste nutzen und herunterladen.
Der Bonner Domingos de Oliviera ist freiberuflicher Berater für Barrierefreiheit. De Oliviera ist selbst blind. Er vermutet, es könne eine Herausforderung werden, Menschen mit Sehbehinderung für Mapping-Aktionen zu gewinnen. „Unbedingte Voraussetzung ist, dass die Anwendungen niedrigschwellig sind“, sagt er. „Einfach bedienbar und barrierefrei.“
Das bedeutet unter anderem: Webseiten und Apps müssen so programmiert sein, dass ein Screenreader sie erfassen und in gesprochener Sprache ausgeben kann. Ein Bildschirmleser beschreibt alles, was der Bildschirm gerade anzeigt: Texte, Bilder, Grafiken. Außerdem führt er Nutzer:innen durch ein Computerprogramm oder eine App und gibt Hinweise, wie sie das Programm bedienen müssen.
An ihrer Erfassungs-App als Grundlage für eine barrierefreie Navigation arbeiten die Entwickler:innen bei der TU Chemnitz zurzeit. Ziel ist eine einsteiger:innenfreundliche Anwendung: „Die Nutzer sollen am Anfang eine Karte angezeigt bekommen, auf der Haltestellen markiert sind. Die kann der Nutzer oder die Nutzerin auswählen und ihnen Informationen zuordnen“, erklärt Apitzsch. Die App wird den Nutzer:innen einfache Fragen stellen: Wie hoch sind die Bahnsteige? Stehen dort Sitzbänke? Gibt es einen Blindenleitstreifen?
Am Ende der Projektlaufzeit soll der Datensatz in einem Pilotbetrieb für eine barrierefreie Bus- und Bahnauskunft in Sachsen-Anhalt eingesetzt werden. „Wir wollen beispielsweise den Reisenden am Hauptbahnhof Magdeburg eine vollständig barrierefreie Routenführung durch das Bahnhofsgebäude anbieten“, sagt Apitzsch. Gleichzeitig entstehen bei OPENER next Werkzeuge, die jedes Verkehrsunternehmen in Deutschland nutzen kann, um Daten für eine barrierefreie Auskunft zu sammeln – unter anderem das Erfassungstool. Die Software ist auf Github abgelegt, einem Entwicklungsportal für offene Software. GitHub-Nutzer:innen können Fehler beheben oder Verbesserungsvorschläge machen.
Die Daten aus Opener next werden allen Verkehrsverbünden und Programmierer:innen auf drei Wegen als Open Data zur Verfügung stehen: über die digitale Karte von OpenStreetMap sowie über den Mobilitätsdaten-Marktplatz und das offene Datenportal mCloud des Bundesverkehrsministeriums.
In der mCloud sollen später auch die Daten aus dem vom BMVI geförderten mFUND-Projekt „OpenData2Guide – ScaleUp“ landen. Gemeinsam mit blinden und sehbehinderten Menschen entwickeln die Projektpartner:innen in den kommenden Jahren einen Audio-Chatbot, der beim Bus- und Bahnfahren unterstützt.
„An Bus- und Straßenbahnhaltestellen wird oft nicht durchgesagt, welche Linie gerade einfährt“, erklärt Projektleiterin Flora Kawohl von der Mannheimer App-Entwicklungsfirma contaqt. „Das soll der Chatbot den Nutzerinnen und Nutzern sagen. Außerdem soll er Informationen über die Haltestelle und die Umgebung geben. Das Wichtigste, was Fahrgäste mit Sehbehinderung wissen wollen: Wo bin ich, und was ist um mich herum?“
Das hat Kawohl in Interviews mit Menschen aus der Zielgruppe herausgefunden. In den Interviews fragt sie, wie sich die Menschen unterwegs orientieren, welche Apps sie verwenden, welche Funktionen sie vermissen. „In jedem Interview gewinnen wir neue Erkenntnisse“, sagt Kawohl, „Aspekte, an die Sehende gar nicht denken.“ So sei es für einige blinde Menschen wichtig zu wissen, ob es in der Nähe eine Grünfläche gibt – damit sie mit ihrem Assistenzhund Gassi gehen können.
Die Kontakte zur Zielgruppe bekam Kawohl unter anderem über den badischen Blinden- und Sehbehindertenverein. Nachdem der Verein in Mails und Newslettern zur Teilnahme an den Interviews aufgerufen hatte, meldeten sich viele Interessierte. Kawohl hofft, dass die Interviewpartner:innen ihre Freund:innen und Bekannten aktivieren und gemeinsam mit ihnen an den ebenfalls geplanten Mapping-Aktionen teilnehmen. Die Mapathons wollen Kawohl und ihr Projektteam in verschiedenen Städten in ganz Deutschland organisieren.
„Auch das haben wir unsere Interviewpartnerinnen und -partner gefragt: Wie wir die Mapathons gestalten sollten, damit sie daran teilnehmen würden“, sagt Kawohl. Wünsche waren unter anderem, dass die Räume gut zugänglich sind, dass barrierefreie Materialien – beispielsweise in Brailleschrift – einfach erklären, wie das Mappen funktioniert, und dass die Teilnehmer:innen vom Bahnhof abgeholt werden.
Das Prinzip von Mapathons: Freiwillige treffen sich für mehrere Stunden in einem Raum und geben an Laptops Daten in die OpenStreetMap ein. Für Kawohls Projekt könnte die Fragestellung lauten: Welche Barrieren und welche Orientierungshilfen für blinde Menschen gibt es an den Haltestellen in Mannheim? Die Merkmale werden mit sogenannten Tags erfasst, beispielsweise „tactile_paving“ für taktile Leitstreifen oder „traffic_signals:sound“ für Ampeln mit akustischem Signal.
Sinnvolle Tags für das Projekt entwickelt Kawohl derzeit gemeinsam mit ihren Interviewpartner:innen. Die Daten aus den Mapathons werden in die Entwicklung des Audio-Chatbots fließen – zusammen mit vorhandenen Daten von OpenStreetMap oder aus der mCloud.
Hinweise, wie sich eine OSM-Karte von blinden Menschen und für blinde Menschen gestalten lässt, gibt unter anderem die OSM-Wikipedia-Seite „OSM for the blind“.
Auch die Deutsche Bahn holt sich für digitale Anwendungen Unterstützung von Menschen mit Behinderung. So entwickeln die Verantwortlichen die App „DB Bahnhof live“ zusammen mit einer Expert:innen-Gruppe aus sehbehinderten und blinden Menschen weiter.
„Wir tauschen uns regelmäßig zu geplanten Funktionalitäten der App aus und holen Feedback ein“, sagt eine DB-Sprecherin. Rückmeldungen aus den Testrunden mit den Expert:innen gingen direkt an die Entwickler:innen. „Fehler und Funktionsstörungen bearbeitet das Team mit Priorität. Anregungen prüfen wir auf Umsetzbarkeit und auf Nutzen für die Reisenden. Was sich eignet, planen wir in den nächsten Release ein“, so die Sprecherin. „Gemeinsam mit der Testgruppe planen wir, welche Features zu welchem Zeitpunkt in die Releases einfließen.“ So habe das Entwickler:innen-Team beispielsweise Probleme bei der Verwendung von Screenreadern behoben und Erklärtexte für die Nutzung der App ergänzt.
Der Quellcode der App „DB Bahnhof live“ ist als Open-Source-Projekt auf GitHub veröffentlicht (siehe oben). Auch hier können GitHub-Nutzer:innen Fehler beheben oder Verbesserungsvorschläge machen.
Offene Daten zu Barrierefreiheit gibt es weltweit Millionen. Die Herausforderung ist, sie für Entwickler:innen nutzbar zu machen. Die Daten brauchen ein einheitliches Format. Im besten Fall gibt es eine Plattform, die die Daten sammelt und zum Herunterladen zur Verfügung stellt. Die Akteur:innen vom Verein „Sozialheld*innen“ haben eine solche Plattform programmiert. In dieser „Accessibility Cloud“ – der Barrierefreiheits-Cloud – lassen sich Datensätze aus der ganzen Welt herunterladen und in eigene Anwendungen einbinden. Ein Bestandteil sind die Daten aus der Wheelmap. Entwickler:innen von ÖPNV-Apps finden außerdem Informationen zu Aufzügen und Rolltreppen an Bahnhöfen: Gibt es welche? Und funktionieren sie?
Mehrere Verkehrsverbünde binden die Aufzugs- und Rolltreppendaten mittlerweile in ihre Routenplanungs-Apps ein. Das erzählt Sebastian Felix Zappe, technischer Chef bei den „Sozialheld*innen“. Er betreut die „Accessibility Cloud“ und entwickelt das Projekt stetig weiter. Zappe ruft Entwickler:innen auf, die offenen Daten für mehr Barrierefreiheit zu nutzen. „Jetzt ist die richtige Zeit dafür“, sagt er. „Die Menge der Daten wächst stetig, und die Qualität nimmt zu.“ Entwickler:innen sollten aber auch daran denken, dass sie eigene Daten in die Cloud hochladen: „Barrierefreiheit ist ein Recht. Und da lässt sich viel bewegen durch die Bereitstellung von Daten.“
Bis im öffentlichen Personennahverkehr Barrierefreiheit vollständig erreicht ist, sind noch viele Maßnahmen erforderlich. Zahlreiche Initiativen und Projekte zeigen: Es ist wichtig, dass sich Menschen mit Behinderung daran beteiligen, beispielsweise bei Mapping-Aktionen, sie wissen aus eigener Erfahrung, welche Barrieren ihnen das Bus- und Bahnfahren schwer oder unmöglich machen. Und sie können als Expert:innen in eigener Sache beurteilen, was getan werden muss, damit sie Gebäude oder Fahrzeuge barrierefrei nutzen können. Werden die neu erfassten oder aktualisierten Daten als Open Data verfügbar gemacht und aufbereitet, profitieren davon weitere App-Entwickler:innen und Dienste-Anbieter:innen.