Was passiert auf den Straßen und Schienen, wie lässt es sich herausfinden und was lässt sich daraus ableiten? Wie könnte die Mobilität der Zukunft von Bürger*innen mitgestaltet werden? Die „Women in Mobility“ boten mit dem Datenspaziergang ein ungewöhnliches Format an, um mit einem neuen Bewusstsein durch die Stadt zu gehen. Wir waren in Wien dabei.
Rund zwei Dutzend Menschen stehen in einem Halbkreis in Wiens größter Einkaufsstraße. Es sind fast ausschließlich Frauen, sommerlich gekleidet, einige haben ihr Fahrrad dabei. Was gibt es hier zu sehen? Der Juwelier im Hintergrund und das Schuhgeschäft daneben sind es wohl kaum. Die Frau, auf die sich die Blicke richten, spricht stattdessen darüber, dass sich Frauen anders fortbewegen als Männer. Es fällt das Stichwort „Gender Data Gap“. Keine gewöhnliche Stadtführung offenbar.
Die Frau im Mittelpunkt heißt Lina Mosshammer. Sie ist Teil der „Women in Mobility“, die zum Spaziergang durch Wien eingeladen haben. Die „Women in Mobility“ sind eine gemeinnützige Unternehmer*innengesellschaft, die sich für eine bessere Sichtbarkeit von Frauen in der Mobilitätsbranche einsetzt. Es geht an diesem Juli-Nachmittag vom Wiener Westbahnhof die Mariahilfer Straße entlang bis zum Knotenpunkt der neuen U-Bahn-Linie 2 an der Station Neubaugasse. Dabei immer im Blick und doch irgendwie unsichtbar: Daten. Mobilitätsdaten, um genau zu sein.
Karte: Google Maps, Bearbeitung: „Women in Mobility“ und Thu Trang Ha
Echtzeitdaten von Bus und Bahn, Infrastrukturdaten, Verwaltungsdaten ... Warum sollten wir uns damit beschäftigen und warum sollten diese Daten offen sein? Ein wichtiger Grundgedanke von Open Data ist, dass Daten offen und frei zugänglich zur Verfügung gestellt werden. Ohne Hindernisse kann jede*r auf der Welt diese verwenden, teilen und mit den eigenen Ideen weiterentwickeln. Das soll insbesondere zu mehr Transparenz, Innovationen, Partizipation und demokratischer Kontrolle führen.
Der Datenspaziergang startet am Westbahnhof, der eine besonders interessante Betriebsstelle für das Sammeln von Daten ist. Jessica Gatterer von den Wiener Linien präsentiert eine neue Ladestation für Elektroautos direkt vor dem Bahnhof und weist auf die Ticketautomaten für den Nah- und Fernverkehr. Welche Daten dort anfallen, ist zwar nicht mit dem bloßen Auge sichtbar, in den entsprechenden Anwendungen aber schon: Hier lässt sich beispielsweise herausfinden, ob eine E-Ladestation gerade besetzt oder frei ist. Auch die Anzahl an verkauften Tickets ist sehr wichtig, denn mit diesem Feedback können die Wiener Linien für eine beliebte Strecke eventuell mehr Züge bereitstellen.
Die Ticketverkäufe interessieren auch Lara Spendier von den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB). Sie spricht in der ersten Etage des Bahnhofs über aktuelle Entwicklungen und Projekte, in denen ihr Unternehmen mit offenen Daten arbeitet.
Foto: Thu Trang Ha
Warum beschäftigen solche Daten die Wiener Linien und die ÖBB? Im Jahr 2013 haben die Wiener Linien eine Initiative gestartet, um einen zentralen Datenkatalog zu schaffen, auf den alle zugreifen können. In diesem Katalog befinden sich größtenteils Echtzeitdaten von ÖPNV-Fahrzeugen, also Standorte, Abfahrtszeiten und Ähnliches, aber auch Auskünfte darüber, wie hoch die Schadstoffwerte an den Haltestellen sind, welche Haltestellen barrierefrei sind und vieles mehr. Diese Informationen können von jeder und jedem auf einer Karte angezeigt oder in eine App integriert werden. Die Wiener Linien bieten mit der „Wien Mobil“-App selbst eine solche an. Dort wird Nutzer*innen in Echtzeit mitgeteilt, ob in ihrem Umfeld Fahrzeugstörungen aufgetreten sind oder die nächste Straßenbahn barrierefrei ist.
Um auf Situationen wie Störungen effizienter reagieren zu können, werden bei den ÖBB „Digital Twins“ erstellt. Dies sind virtuelle Abbilder des Gleisnetzes, die anzeigen, wie und wo die Züge verkehren. „Wenn eine Störung auftritt, können wir dort Alternativen simulieren und dann planen, ob es eine Möglichkeit wäre, die Züge umzuleiten“, erklärt Lara Spendier. Bis dato habe das sehr viel an manueller Arbeit bedeutet, aber bei den ÖBB werde gerade eifrig an verschiedenen Projekten gearbeitet, nicht nur um die Digitalisierung und Automatisierung voranzutreiben, sondern auch um die Ankunftszeiten besser planen zu können. Wesentliche Ziele sind, Planer*innen viel schneller unterstützen und Dienstplanänderungen automatisiert erstellen zu können.
In Wien wird gerade die U-Bahn-Linie 2 um sechs Stationen erweitert. Mit der Fertigstellung wird die U2 die längste U-Bahn-Strecke Wiens sein und zukünftig auch an die U3-Station Neubaugasse anknüpfen. So wird es leichter, in den 22. Bezirk zu reisen und die Seestadt zu besuchen.
Fotos: Thu Trang Ha
Mit dem Seestadt.bot hat Philipp Naderer-Puiu eine interaktive Anwendung entwickelt, die Besucher*innen mit nützlichen Informationen versorgt. Der Chatbot funktioniert im Browser oder in den Messenger-Apps von Telegram und Facebook. Dort antwortet er zwar nicht auf jede Frage, mit den richtigen Schlagworten aber lassen sich etwa das Wetter, die Öffnungszeiten, Kontaktinformationen und Standorte von vielen Geschäften und anderen Points of Interest herausfinden.
Sein Spezialgebiet ist aber die Mobilität: Der Bot kennt alle Haltestellen der Seestadt und kann die nächsten Abfahrten von dort benennen. Er weiß, wo es zu Verzögerungen kommt, wo es Bauarbeiten gibt und wo wie viele Leihfahrräder stehen. Dahinterstecken – man ahnt es – offene Daten, die sich der Bot aus verschiedenen Quellen zieht. Ein weiteres Feature ist eine Stadt- bzw. Stadtteilkarte, die von allen mitgestaltet werden kann. Wer mit dem Chatbot kommuniziert, kann Punkte auf der Karte ergänzen oder auf fehlerhafte Daten vor Ort aufmerksam machen. Diese werden in der Datenbank zeitnah korrigiert, sagt Naderer-Puiu.
Das Sammeln von Daten – und diese auch up to date zu halten – ist eine Herausforderung. Für Lina Mosshammer (Punkt vor Strich) hört die Arbeit dort aber nicht auf: Sie berichtet, dass auch scheinbar aktuelle, vollständige Datensätze gewisse Aspekte nicht beinhalten. So komme es vor, dass bei einer Umfrage fast nur Männer befragt wurden oder dass kulturelle Unterschiede nicht beachtet wurden. „Es ist immer ein Bias drinnen“, sagt sie und meint damit Verzerrungen sowohl bei der Erhebung als auch bei der späteren Analyse der Daten. Darum hat sie mit zwei Kolleginnen das Unternehmen „Punkt vor Strich“ gegründet, dessen Ziel es ist, ein Bewusstsein für Diversität und Gender in der Mobilitätsbranche zu schaffen.
Foto: Thu Trang Ha
Wie könnte eine gerechtere Mobilität aussehen und was braucht es an Infrastruktur? Lina Mosshammer stellt Fragen, mit denen die Passant*innen hier in der Einkaufsstraße auf Anhieb wohl kaum etwas anfangen können. Vielleicht schnappen sie im Vorübergehen auf, dass Frauen sich anders bewegen als Männer, weil sie ein größeres Bedürfnis nach Sicherheit haben oder andere Dinge erledigen, Care-Arbeit zum Beispiel, ihr Kind zur Schule bringen. Viele Sharing-Angebote kommen deshalb für Frauen nicht infrage. Ausgerechnet Daten, selbst erst einmal unsichtbar, können diese Umstände sichtbar machen.
Foto: Thu Trang Ha
Der Datenspaziergang ist ein Format, das den Teilnehmenden die Augen öffnet und sie danach neugieriger durch die eigene Stadt gehen lässt. Mit einem neuen Bewusstsein, manche vielleicht sogar mit dem Wunsch, Datenpools zu erweitern und auf Fehlerquellen aufmerksam zu machen, damit Mobilität für alle besser wird.
Datenspaziergänge gab und gibt es nicht nur von den „Women in Mobility“ und nicht nur in Wien. Für Mobilitätsbegeisterte in Baden-Württemberg bietet das Verkehrsministerium des Landes im September einen ähnlichen Spaziergang durch Stuttgart an: