Frauen werden in unserem Verkehrssystem benachteiligt, weil sie in den Daten nicht auftauchen. Sollten wir jetzt alles frauengerecht umbauen? Jein. Ein pragmatischer Ansatz zum Umgang mit der Gender Data Gap und bedarfsgerechter Planung bringt uns weiter.
Im Mobilitätsalltag gilt: Frauen bewegen sich anders als Männer. Diese Tatsache ist nicht neu, sie bekommt aber durch den technologischen Wandel und das steigende Angebot an datengetriebenen Services eine neue Tragweite. Daten sind die Grundlage von Entscheidungen für Stadt- und Verkehrsplaner*innen und werden für neue Mobilitätsservices immer relevanter, doch dass Frauen anders mobil sind als Männer, zeigt sich in den Daten in der Regel nicht oder ungenügend.
Es gibt eine Gender Data Gap, eine geschlechterspezifische Datenlücke. Dabei handelt es sich um eine Verzerrung von Daten, die eben nicht geschlechtsspezifisch erhoben wurden, aber als universell verstanden werden. Das ist erstaunlich, denn Gender ist einer der stärksten Bestimmungsfaktoren für die Verkehrsmittelwahl. Auch wenn die Details von Land zu Land variieren, zeigt sich insgesamt ein deutliches Bild: Im Vergleich zu Männern legen Frauen eine höhere Anzahl an Strecken am Tag zurück, ihre Wege sind allerdings kürzer und liegen häufiger außerhalb der Stoßzeiten. Sie nutzen häufiger den ÖPNV, gehen häufiger zu Fuß und sind im Auto häufiger Beifahrerinnen. Sie bewegen sich häufiger in Begleitung von Kindern oder älteren Menschen.

Bei der Verkehrsmittelwahl spielen für Frauen die Aspekte von Nachhaltigkeit und Sicherheit eine größere Rolle. Sie nutzen im Schnitt neue und digitale Mobilitätsservices weniger – allerdings nicht, weil Frauen weniger digital affin sind, sondern weil die neuen Services sich (noch) nicht gut einfügen in ihre Mobilitätsroutinen.
Das Verkehrssystem spiegelt Prioritäten wider: Zentral war über viele Jahrzehnte die Frage, wie der Alleinverdiener so schnell wie möglich mit dem Auto zur Arbeit und zurückkommt. Entsprechend wurden Straßen und Städte gebaut. Das ist aber nicht mehr zeitgemäß. Trotz 40 Jahren Forschung und des Wissens über die unterschiedlichen Mobilitätsbedürfnisse von Männern und Frauen spielt Geschlechtergerechtigkeit (Gender Mainstreaming) in der Mobilität noch immer keine Rolle. Studien zeigen, dass Stadt- und Verkehrsplanung, bei der Genderaspekte nicht ausdrücklich einbezogen werden, mit großer Wahrscheinlichkeit in erster Linie männlichen Mobilitätsbedürfnissen zugutekommt (PDF).
Ein eklatantes und inzwischen bekanntes Beispiel für einen blinden Fleck: Geschlechterspezifische Daten aus Auto-Crashtests fehlen, weil es lange keine Crashtest-Dummys für Frauenkörper gab. Frauen haben daher bei einem Autounfall eine 17 Prozent höhere Todeswahrscheinlichkeit als Männer und bei einem Frontalaufprall eine 73 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, schwer verletzt zu werden.
Nach Geschlechtern differenzierte Daten über Mobilitätsverhalten und Bedürfnisse werden entweder nicht erhoben oder nicht systematisch ausgewertet. Ein Teil der aktuellen Erhebungsverfahren kann beispielsweise die flexibleren Wegeketten von Frauen nicht exakt genug erfassen. Das führt insgesamt zu einer unbewussten Bevorteilung von männlichen Mobilitätsbedürfnissen bei der Verkehrsplanung und -gestaltung. Nach Einschätzungen von Verkehrsexpert*innen ist die Datenlage zurzeit nicht ausreichend, um gendersensible und inklusive Verkehrsentscheidungen zu treffen.
Es ist unwahrscheinlich, dass jemals perfekt repräsentative Daten
erhoben werden – es wird wohl immer Verzerrungen geben. Aber das muss
allen klar sein! Dieses Wissen ist wichtig, denn Verkehrsdaten sind die
Grundlage für politische Entscheidungen, für die Planung von
Infrastruktur und für die Entwicklung neuer Dienstleistungen. Damit
setzen Daten letztlich den Rahmen für unser aller Mobilität. In einer
Welt, in der wir uns immer stärker mithilfe von digitalen und
datengetriebenen Lösungen fortbewegen, ist es umso wichtiger, die
zugrundeliegenden Mechanismen zu verstehen.
Was bedeutet es, wenn Sharing-Dienste ihre Services anhand von Daten optimieren, die je nach Anbieter zu 60 bis 75 Prozent von männlichen Nutzern stammen? Algorithmen, die zum Beispiel zur Verteilung der Fahrzeuge im Stadtgebiet eingesetzt werden, können bestehende Verzerrungen sogar noch verstärken. Solange überwiegend Männer die Fahrzeuge ausleihen, optimiert der Algorithmus auch stets für sie das Angebot.
Also jetzt alles für weibliche Mobilitätsbedürfnisse umbauen? Jein. Es ist wichtig, dass die weibliche Perspektive in Verkehrsplanungsprozesse und Produktentwicklungen einfließt, dass genderspezifische Daten mehr genutzt werden und in diesen Bereichen das Bewusstsein dafür gestärkt und entsprechende Kompetenzen aufgebaut werden. Genauso wichtig ist es, den Blick auf bedürfnisorientierte Mobilität zu richten.
Am Ende haben Familienväter mit dem Kinderwagen im ÖPNV und
Jugendliche, die bei Dunkelheit unterwegs sind, ganz ähnliche
Mobilitätsbedürfnisse wie Frauen. Auch Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen haben vielfältige Ansprüche,
die noch zu wenig gesehen werden. Datengetriebene Services bergen
großes Potenzial für eine inklusive und gendergerechte Mobilität, indem
sie zum Beispiel bestehende Angebote flexibilisieren und Informationen
individuell und in Echtzeit bereitstellen. Nutzen wir dieses Potenzial,
aber bitte: Please mind the gap. Erfreulich: In Sachen Crashtests
zeichnen sich erste Lösungen ab: Sie heißt Eva.
Übrigens: Laut einer Umfrage gehen 70 Prozent der Verkehrsexpert*innen davon aus, dass sich die Datenlage leicht verändern ließe. Das fängt bei der Datenerhebung an: Erstens, es braucht harmonisierte Datenstandards zur Erhebung geschlechterspezifischer Daten, damit auch Vergleiche zwischen Verkehrsträgern und Regionen möglich sind. Zweitens, es gibt bereits verfügbare Technologien und Handreichungen, die sowohl die Qualität und Häufigkeit der Datenerhebung als auch deren Analyse verbessern können. Drittens, es gibt einen Bedarf für Wissens- und Erfahrungsaustausch. Diesen Austausch wollen wir im mFUND-Frauennetzwerk Women for Datadriven Mobility und bei den Women in Mobility vorantreiben.
Dieser Text erschien zuerst als Gastbeitrag im Tagesspiegel Background Verkehr & Smart Mobility vom 15. Juni 2023.